ifo Standpunkt Nr. 51: Niedriglöhne, Lohnzuschüsse und Investivlöhne

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 04. März 2004

Die neuen Bundesländer, aber auch die grenznahen Gebiete Bayerns, stehen wegen der Osterweiterung der Union unter erheblichem Anpassungsdruck. Die Lohnkosten in Tschechien und Polen liegen bei einem Viertel bis Fünftel der Kosten in den neuen Ländern und einem Fünftel bis Sechstel der Kosten in Bayern. Die deutschen Industrieunternehmen nutzen die Chance, indem sie arbeitsintensive Produktionsprozesse nach Osteuropa verlagern. Doch für die deutschen Arbeiter entsteht ein Problem größeren Ausmaßes. Ihre Wettbewerbsfähigkeit geht allmählich verloren, wenn sie nicht billiger werden.

Das Problem betrifft die gesamte deutsche Industrie, insbesondere aber die grenznahen Gebiete Bayerns und die neuen Länder, die immer noch unter den übereilten Lohnsteigerungen der ersten Jahre leiden. Zwar liegen die Stundenlohnkosten für Industriearbeiter in den neuen Ländern heute erst bei etwa 72% des Westniveaus (während die Monatsbruttolöhne bei 77 %, die Monatsnettolöhne bei 83% und die realen Monatsnettolöhne bei etwa 90% liegen). Doch stagniert die gesamtwirtschaftliche Produktivität seit 1997 bei knapp 60%.

Leider gibt es kein überzeugendes ökonomisches Szenarium, bei dem diese Lohnsituation mit einer Öffnung der Grenzen nach Osteuropa kompatibel ist, ohne dass es mittelfristig zu einer weiteren Zunahme der Arbeitslosigkeit kommt, die an manchen Orten ohnehin schon katastrophale Ausmaße angenommen hat. Insbesondere die grenznahen Gebiete wie die ostdeutsche Lausitz werden sich bei starren Löhnen weiter entleeren.

Deswegen werden sich die Lohnstrukturen ändern müssen. Insbesondere werden die Löhne in den grenznahen Gebieten sowie die Löhne für einfache Arbeit in Relation zu den durchschnittlichen Löhnen nachgeben müssen, denn in diesen Segmenten konzentrieren sich die deutsche Arbeitslosigkeit und der Niedriglohnwettbewerb aus dem Osten. Die Löhne müssen nicht auf oder in die Nähe des polnischen Niveaus fallen. Davor schützen die bessere Infrastruktur und das bessere Rechtssystem, die vorläufig noch Produktivitätsvorteile sichern. Aber sie müssen nachgeben, um die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Menschen wieder herzustellen.

Eine Lohnsenkung bei Menschen, die bereits niedrige Löhne verdienen, ist freilich ein soziales Problem ersten Ranges für Deutschland. Damit diese Lohnsenkung keine Einkommenssenkung wird, sollte der Sozialstaat sie durch Zuzahlungen beim Lohn kompensieren. Das ifo Modell der aktivierenden Sozialhilfe, das die Vorlage für das Hessen-Modell des Bundesrates war, ist ein vollständig durchkonstruiertes und für den Staat belastungsneutrales Modell für solche Zuzahlungen. Es ist im Gegensatz zum heutigen Sozialsystem mit der nötigen Lohnflexibilität kompatibel, und es fängt die Einkommensnachteile für Geringverdiener ab. Ja, für die typischen ostdeutschen Niedriglöhne wird es sogar zu einer deutlichen Einkommensaufbesserung bei den Geringverdienern führen.

Des weiteren bietet es sich zumindest in den neuen Ländern an, die notwendigen Lohnsenkungen durch eine Mitbeteiligung am Produktivkapital auszugleichen. Investivlohnvereinbarungen, die über eine längere Zeitspanne laufen und nur die dann bereits beschäftigten Arbeitnehmer durch eine Mitbeteiligung am Unternehmen kompensieren, verringern die Lohnkosten für neue Beschäftigte. Sie bieten deshalb einen Anreiz zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, ohne dass den bereits beschäftigten Arbeitnehmern Nachteile entstehen.

Der Markt sorgt nicht für die soziale Gerechtigkeit. Aber man kann Gerechtigkeit auch nicht gegen den Markt durchsetzen, indem man sich an Lohnstrukturen klammert, die der Wettbewerbslage nicht entsprechen. Es ist nur möglich, die soziale Gerechtigkeit mit Hilfe von Maßnahmen zu realisieren, die die Funktionsfähigkeit des Marktes nicht behindern. Aktivierende Sozialhilfe und Investivlöhne sind solche Maßnahmen. Sie werden in den neuen Ländern dringend benötigt, um für den Beitritt der Polen und Tschechen fit zu werden.

 

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Die Löhne müssen sinken", Die Welt, 1.3.04, S. 12.