Handelsblatt Online, 30. Januar 2018.
Der frühere Ifo-Chef Hans-Werner Sinn und der Europa-Abgeordnete Hans-Olaf Henkel kämpfen für einen Verbleib Großbritanniens in der EU. Im November haben sie mit anderen ehemaligen deutschen Wirtschaftsgrößen die Initiative „A New Deal for Britain“ gestartet. In London
haben sie sich kürzlich mit Remainern und Leavern getroffen, um sich ein Stimmungsbild zu verschaffen.
Herr Henkel, Herr Sinn, Sie waren gerade in London um die Briten zu überzeugen, in der EU zu bleiben. Wieso mischen Sie sich in die Brexit-Debatte ein?
Henkel: Ich habe noch keinen einzigen Nicht-Briten getroffen, der für den Brexit ist. Nicht einen. Alle sagen, es ist eine Katastrophe. Aber keiner tut was. Die Europäer sagen, das ist ein britisches Problem, die haben gewählt, da können wir nichts machen. Es gibt diese Apathie, dass der Brexit schon gelaufen ist.
Das sehen Sie anders?
Henkel: Stimmungen ändern sich, das hat die Vergangenheit gezeigt. Die Iren haben auch zweimal über den Lissabon-Vertrag abgestimmt. Und eine Mehrheit der Briten will inzwischen ein zweites Referendum. Darauf muss die EU vorbereitet sein. Wenn es zu einer zweiten Volksabstimmung kommen sollte, müssen wir sagen können: Auch wir haben unsere Meinung geändert, zum Beispiel bei der Freizügigkeit, die ja beim Referendum eine entscheidende Rolle gespielt hat. Sinn: Mir geht es um dreierlei. Erstens um ein Rückkehr-Angebot an die Briten für den Fall, dass die Remainer wieder Oberwasser bekommen. Zweitens um den Erhalt des Freihandels, wenn die Briten austreten. Und drittens um eine bessere EU. Wenn die EU sich reformiert, könnten die Briten bei einem zweiten Referendum für den Verbleib stimmen, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Wir sollten die Diskussion aber auch für uns selbst führen und uns klarmachen, was in der EU falsch läuft. Die Kritik der Briten ist ja berechtigt: Das Subsidiaritätsprinzip wird dauernd verletzt, weil in Brüssel geregelt wird, was auch auf unterer Ebene geregelt werden könnte. Auch das Prinzip der sozialen Inklusion für Migranten gehört auf den Prüfstand.
Sie haben im November die Initiative „A New Deal for Britain“ gestartet. Welche EU-Reformen fordern Sie konkret?
Sinn: Beim Thema Freizügigkeit schlagen wir vor, die Sozialleistungen für EU-Migranten in erarbeitete und ererbte Sozialleistungen aufzuteilen. Die ererbten werden vom EU-Heimatland gezahlt, die erarbeiteten vom Gastland. Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung sind erarbeitet, die werden vom Gastland gewährt. Aber Wohngeld, Kindergeld und die Unterstützung für Behinderte wären vom Heimatland zu gewähren. Wo diese Mittel konsumiert werden, steht den Begünstigten frei. Insofern wird die Freizügigkeit vollauf gesichert.
Henkel: Wenn wir das dem damaligen Premierminister David Cameron angeboten hätten, wäre das Brexit Votum nie passiert.
Wie kommt es in London an, wenn sieben Deutsche die Briten vor dem Brexit retten wollen?
Henkel: Ich habe gelernt, dass wir gut beraten sind, uns nicht in die internen britischen Angelegenheiten einzumischen. Das würde als kontraproduktiv angesehen. Als wir im November unsere Initiative in Berlin vorgestellt haben, schrieb die englische Boulevardpresse, es handele sich um ein deutsches Komplott zur weiteren Versklavung der Briten in der EU. Das ist es nicht. Wir wollen die Europäische Kommission und den Europäischen Rat beeinflussen.
Wie kommen Sie dabei voran?
Henkel: Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Der frühere britische Vizepremier Nick Clegg, einer der führenden Remainer, sagte mir neulich, es wäre unglaublich hilfreich, wenn aus Brüssel die Botschaft käme, dass wir Großbritannien als Mitglied behalten wollen. Das habe ich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erzählt. Und am nächsten Tag haben Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk das öffentlich gesagt. Das war ein Resultat unserer Initiative.
Im Moment deutet alles darauf hin, dass der Brexit stattfindet. Was sollten die Europäer tun, wenn die Briten ihre Meinung nicht ändern?
Sinn: Dann sollten wir ihnen auch weiterhin vollen Zugang zu den Güter- und Kapitalmärkten gewähren. Die Haltung von EU-Chefunterhändler Michel Barnier, dass Großbritannien ohne Freizügigkeit auch kein Freihandelsabkommen für Finanzdienstleistungen bekommt, ist ökonomischer Unsinn. Wenn London die Freizügigkeit für EU-Bürger streicht, sollten wir uns nicht selbst noch zusätzlich bestrafen. Wenn Ihre linke Hand gebrochen ist, macht es keinen Sinn, auch noch die rechte anzubinden.
Barnier sagt: Wenn man Großbritannien ein Freihandelsabkommen für Dienstleistungen gibt, wollen Norwegen und die Schweiz das auch. Der Binnenmarkt würde aufgeweicht.
Sinn: Ja, und? Was spricht dagegen, Norwegen und der Schweiz einen ähnlichen Deal zu geben? Freihandel ist immer sinnvoll. Barnier argumentiert so, weil er die Briten für den Austritt bestrafen will. Das ist ein ganz furchtbares Motiv.
Stattdessen wollen Sie die Briten belohnen?
Sinn: Wir geben ja nichts. Freihandel ist immer ein Gewinn für beide Seiten. Die Vorstellung, dass diese Verhandlungen ein Nullsummenspiel sind, nach dem Motto: Wenn die sich freuen, müssen wir uns ärgern, diese Vorstellung ist falsch. Wir helfen uns selber, indem wir großzügig sind beim Freihandel.
Wie können die Briten denn Zugang zum Binnenmarkt haben, wenn sie den Europäischen Gerichtshof ablehnen?
Sinn: Das ließe sich auch mit Schiedsgerichten regeln wie bei TTIP. Dem hatten die Europäer ja schon zugestimmt.
Nach dem Referendum vor 18 Monaten gab es den großen Brexit-Schock. Wirkliche negative Folgen sind bislang allerdings ausgeblieben. Waren die Warnungen übertrieben?
Sinn: Die zweitgrößte Volkswirtschaft tritt aus. Das ist so, als wenn die 19 kleinsten EU-Länder gleichzeitig austreten würden. Da ändern sich auch die Machtverhältnisse in Europa. Seit dem Lissabon-Vertrag gilt im EU-Rat eine Sperrminorität von 35 Prozent. Durch den Austritt der Briten rutschen die liberalen Länder wie Deutschland, die Niederlande und die skandinavischen Länder unter diese Marke. Sie können dann von den mediterranen Ländern überstimmt werden, die mehr Protektionismus wollen. Ohne Großbritannien verschiebt sich die Machtbalance gegen Deutschland. Das halte ich für sehr gravierend.
Henkel: Die Industrie fürchtet um ihre in Jahrzehnten aufgebauten Lieferketten quer durch Europa. Heute gehen Produkte während der Fertigung von Deutschland über Tschechien nach Großbritannien, und das Endprodukt landet dann vielleicht in Spanien. Da geht es nicht nur um fünf Prozent Zölle, die Unternehmen sehen eine gewaltige Bürokratie, die da auf sie zukommt. Die Deutschen überschlagen sich hier mit „Och Gott, da kommen jetzt ein paar Arbeitsplätze nach Frankfurt“. Da sitzen ein paar mehr Leute in den Bürotürmen. Aber was das für die Industriearbeitsplätze bedeutet, haben die noch gar nicht begriffen.
Ihre Initiative besteht nur aus Ehemaligen. Wenn der Brexit so einschneidende Nachteile für Firmen bringt, wieso schlagen so wenig aktive Unternehmer Alarm?
Sinn: Die Ehemaligen sind freier. Aktive Unternehmer kümmern sich um ihren privaten Gewinn, und sie müssen politische Rücksichten nehmen. Henkel: Es gehört zur Verantwortung eines Unternehmers, sich zu melden, wenn er das Gefühl hat, es läuft was schief. Ab und zu passiert das, wenn es um die eigene Branche geht. Aber wenn es um volkswirtschaftliche Fragen geht, ist die Bereitschaft sich zu engagieren, sehr gering. Die wollen nicht riskieren, dass der Aufsichtsratsvorsitzende sagt: Du hast genug Ärger in Deinem Unternehmen, Du brauchst Dich nicht auch noch in die Politik einzumischen. Dafür habe ich ein gewisses Verständnis. Kein Verständnis habe ich für das Schweigen der Verbandsvertreter.
Herr Sinn, Herr Henkel, vielen Dank für das Interview.
Das Interview führte Carsten Volkery.
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