Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Oktober 2025, Nr. 235, S. 19.
Hans-Werner Sinn verlangt mit Blick auf Trumps Amerika und Putins Krieg einen dramatischen Schritt, den schon Helmut Kohl gehen wollte, aber nicht konnte. Und erklärt, was Friedrich Merz jetzt wirtschaftspolitisch vollbringen muss.
FAZ: Herr Professor Sinn, wie schlimm steht es um Deutschland und Europa gerade wirtschaftlich?
Hans-Werner Sinn: Ziemlich schlimm. Die Europäer haben zu wenige Kinder, um ihre wirtschaftliche und wissenschaftliche Druckerpressen, anstatt die Ärmel hochzukrempeln. Deutschland hat seine Infrastruktur verlottern lassen, vernachlässigt seine Schulen und finanziert zu viele Menschen, die arbeiten könnten, aber es nicht tun. Die Europäer haben sich durch die EU-Kommission, ein ideologiegetriebenes Parlament und mächtige industrepolitische Interessen zu einem lähmenden Dirigismus und Protektionismus verleiten lassen, der ihre Wettbewerbsfähigkeit unterminiert hat.
Und politisch?
Wegen nationalstaatlicher Eifersüchteleien haben die europäischen Staaten versäumt, eine politische Union zu bilden. Eine politische Union ist keine Transferunion und keine Währungsunion, sondern in ihrem Kern eine militärische Verteidigungsunion. So hatten es Konrad Adenauer und Helmut Kohl verstanden. Bei all dem Trubel um den Euro und die industriepolitischen Steuerungsversuche der EU haben die Europäer die Hauptsache übersehen. Heute stehen sie Putin blank gegenüber und müssen Trump Schutzgeld zahlen.
Friedrich Merz hat für seine Kanzlerschaft einen echten Politikwechsel in Aussicht gestellt, mehrfach hat er die Deutschen deutlich darauf hingewiesen, dass der Sozialstaat so nicht finanzierbar bleibt. Wie beurteilen Sie, was er und seine schwarz-rote Koalition bislang vollbracht haben?
Merz hat erkannt, was nötig ist, nicht nur beim Sozialstaat, sondern auch bei der politischen Union und der Verteidigungsfähigkeit. Auch in der SPD gibt es vernünftige Leute, die einen Kurswechsel wollen, allen voran Verteidigungsminister Boris Pistorius. Allerdings müssen den Ankündigungen nun Taten folgen.
Was müsste die Koalition unbedingt vollbringen, um mehr Wachstum hinzubekommen?
Als erstes würde ich das Bürgergeld abschaffen und es durch einen Bürgerlohn mit kommunalen Stellen umwandeln. Die Besen kann man besorgen, und zu fegen gibt es ohnehin genug. Man wird aber nicht viele Besen brauchen, denn alle werden in den ersten Arbeitsmarkt drängen, und auch die von den Migranten gemiedenen Lehrstellen werden dann wieder attraktiv. Zweitens: Der Sozialmagnet für Armutsflüchtlinge muss abgestellt werden. Der frühere britische Premierminister David Cameron hatte mit seinem Vorschlag einer verzögerten Integration in das Sozialsystem, mit dem ihn Angela Merkel seinerzeit abblitzen ließ, vollkommen Recht. Zugleich ist eine qualifizierte Zuwanderung mit einem hohen Bildungsniveau anzustreben, Stichwort: Punktesystem à la Kanada.
Und drittens?
Drittens sollten die Anreize für die Lehrer und Schüler verbessert werden. Die deutschen Schulen genügen nicht den internationalen Standards. Viertens: Die Drückebergerei am Montag und Freitag ist nicht mehr hinzunehmen. Es würde Wunder wirken, wenn die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für den ersten Krankheitstag wegfiele. Kleine Schäden kann jeder selbst tragen. Das ist das Grundprinzip einer effizienten Versicherung. Fünftens: Um die Arbeitsbevölkerung von Sozialabgaben und Steuern zu entlasten, könnte das Renteneintrittsalter jedes Jahr um die Zunahme der Lebenserwartung angehoben werden. Sechstens ist zu erwägen, dass die Rentenversicherung so verändert wird, dass die kinderfeindliche und damit existenzbedrohende Grundtendenz abgeschwächt wird, die ihr innewohnt. Kontraproduktiv sind die vielen kreditfinanzierten Ausgabenprogramme, die den Leidensdruck verringern und die Eigeninitiative ersticken.
Merz kam auch deshalb an die Macht, weil das Dreierbündnis aus SPD, Grünen und FDP vorzeitig scheiterte – inhaltlich, handwerklich und aufgrund nicht endender interner Streitereien. Wie stark liegt die mangelhafte Reformfähigkeit unseres Landes eigentlich an schwachem politischen Führungspersonal und wie sehr an einer Bevölkerung, die eher will, dass alles bleibt, wie es ist?
Wir haben eine repräsentative statt einer plebiszitären Demokratie. In dieser Staatsform ist es die Aufgabe politischer Führungskräfte, das Volk über unbequeme Sachzwänge zu informieren, anstatt allwöchentlich das Politbarometer zu befragen. Der Krieg, der uns immer näher kommt, verlangt Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden. Die Politiker haben die Pflicht, die Menschen über die anstehenden Probleme aufzuklären, anstatt weiterhin die Illusion zu nähren, die Wohlfühlgesellschaft alter Art lasse sich mit irgendwelchen Mitteln aufrecht erhalten.
Wie müssen so grundsätzlich über all das sprechen, weil sich die Weltlage in den zurückliegenden zehn Jahren dramatisch verändert hat. Russland überzieht die Ukraine mit Krieg, Europa und China habe sich entfremdet, vor allem aber führt Donald Trump die Vereinigten Staaten auf einen neuen Pfad. Was für eine Beziehung haben wir gerade mit Amerika?
Amerika droht uns mit dem Rückzug aus der NATO und erpresst von seinen Verbündeten Schutzgeld. Wenn Europa nun nicht endlich eine Politische Union gründet und seine Streitmächte unter einem einheitlichen, demokratisch legitimierten Oberkommando bündelt, kommt es unter die Räder. Auch die USA werden uns nicht ernst nehmen, wenn wir nicht endlich eine Politische Union gründen.
Sie selbst kennen Amerika schon lange und gut, haben dort gelebt und gelehrt – ahnten Sie irgendwann, dass sich unsere traditionelle Schutzmacht einmal so weiterentwickeln könnte?
Ich hatte schon immer den Eindruck, dass die amerikanische Multi-Kulti-Gesellschaft nicht funktioniert. Die Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen waren einfach zu groß für ein friedliches Zusammenleben. Amerika braucht einen Sozialstaat für den inneren Frieden, aber die große Diversität macht es unmöglich, ihn zu schaffen. Solidaritäts- und Versicherungsgedanken über die gesellschaftlichen Gruppen hinweg liegen den Amerikanern fern. Auch habe ich seit Jahrzehnten in meinen Vorträgen und Aufsätzen die riesigen Leistungsbilanzdefizite der USA problematisiert, die bezeugten, dass die USA über ihre Verhältnisse leben. Dass sich beide Probleme nun in aggressivem Verhalten gegenüber den Verbündeten äußern würden, hatte ich nicht erwartet. Es überrascht mich aber auch nicht. Häufig wurden in der Geschichte innenpolitische Spannungen in die Außenpolitik abgelenkt.
Aus Sorge haben Sie ein engagiertes neues Buch geschrieben mit dem Titel „Trump, Putin und die Vereinigten Staaten von Europa“. Sie widmen es Ihren Enkeln und richten den Wunsch „Haltet Europa zusammen, wenn ihr groß seid“ an sie. Wie geht das gegenwärtig denn, Europa zusammenhalten?
Wir sollten den Plan von Helmut Kohl vollenden. Als Helmut Kohl im Jahr 1982 an die Macht kam, sah er die Schaffung einer Politischen Union im Sinne einer militärischen Union als wichtigstes Ziel seiner Amtszeit an. In den ersten Jahren der Verhandlungen mit Frankreich ging es ihm allein darum. Er war bereit, die D-Mark dafür zu opfern, denn er wusste, wie intensiv der französische Wunsch nach einer Währungsunion war. Ein Deal zwischen Mitterand und Kohl lag damals in der Luft – Mitterand hatte die D-Mark sogar als Atomwaffe der Deutschen bezeichnet. Aber dann kam Mitterand das Schicksal zu Hilfe. Die Sowjetunion taumelte, die Mauer fiel. Kohl überraschte alle mit seinem 10-Punkte-Plan. Mitterand grätschte ihm in die Parade, indem er eine Allianz gegen Deutschland zu formieren versuchte. Sein Ziel war es, die von Kohl verlangte politische Union abzuwenden, indem er als Gegenleistung für die Währungsunion nicht mehr die Politische Union, sondern seine Zustimmung zur deutschen Vereinigung in die Waagschale legte. Er drohte dem deutschen Außenminister sogar mit Krieg, falls Deutschland versuchen sollte, die Vereinigung vor der Währungsunion zu beschließen. Obwohl Mitterands Manöver angesichts der deutschen Revolution von 1989 fast schon operettenhaft wirkte, konnte Kohl nicht mehr zurück. Er ließ sich in Deutschland als Vater der deutschen Vereinigung und in Europa als Vater des Euros feiern, doch hatte er die D-Mark als Gegenleistung für die Politische Union aus der Hand gegeben. Das ist ein tiefererer Grund dafür, dass Europa heute gegenüber Russland blank dasteht und akzeptiert, in Form hoher Zölle, Energiekäufe und der Übernahme der Waffenlieferungen an die Ukraine Schutzgeld an die USA zu bezahlen. Es ist jetzt an der Zeit, von Frankreich die einst verweigerte Gegenleistung für die Preisgabe der D-Mark zu verlangen und möglichst viele Länder für ein gemeinsames Waffenbündnis zu gewinnen, das ich den Europäischen Bund nenne.
Wie soll das geschehen?
Die europäischen Staaten haben der EU keine maßgebliche Kompetenz für Verteidigungsfragen gegeben, nicht einmal für die Grenzsicherung. Frontex wird nur im Auftrag der Nationalstaaten tätig. Und bekanntlich taugen die EU-Regeln nicht für einheitliche Beschlüsse, weil sie den unwilligen Ländern zu viele Blockademöglichkeiten geben. Die willigen Staaten könnten nun rechtlich außerhalb der EU einen europäischen Bund mit einer demokratischen, parlamentarisch kontrollierten Regierung gründen, der die Oberaufsicht über die Armeen der Mitgliedsländer und die Aufgabe der Grenzkontrolle übertragen wird. Grundsätzlich kann das schnell gehen. Für den Euro-Vertrag hat es nur vier Jahre gebraucht. Die Vereinheitlichung der Waffensysteme dauert demgegenüber Jahrzehnte. Die Gründung eines Europäischen Bundes durch die Zusammenlegung der Armeen wird Putin mehr abschrecken als die Planung neuer Waffensysteme, deren Umsetzung viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird, so wichtig sie auch ist. Auch die USA werden dem Europäischen Bund ihren Respekt zollen müssen. Der Bund ist offen für Länder wie Großbritannien und untersteht der NATO gleichberechtigt mit den Staaten der USA, die ja auch eine gemeinsame Repräsentanz haben. Ich sehe nur diese Möglichkeit für die glaubhafte politische Zukunft Europas in einer Welt der autokratischen Mächte.
Wenn wir von Europa sprechen, steckt dahinter tatsächlich kein monolithischer Klotz, sondern ein durchaus heterogenes Gebilde. In Brüssel prallen nicht nur die alltäglichen Meinungsunterschiede aufeinander, sondern teils prinzipiell verschiedene Vorstellungen darüber, was etwa gute Wirtschafts- oder Außenpolitik ist. Ist es realistisch, dass die Länder enger zusammenarbeiten und dabei Souveränität abgeben?
Was realistisch ist, hängt vom Kriegsverlauf ab. Wenn russische Marschflugkörper, Flugzeuge und Panzer den Drohnen folgen, die derzeit schon unsere Infrastruktur ausspähen und Flughäfen lahmlegen, und wenn sich dann auch noch unsere amerikanischen Freunde zurückziehen, wie sie es mehrfach angekündigt haben, erscheint es mir jedenfalls als unverantwortlich, wenn die europäischen Nationen bei ihrer Kleinstaaterei bleiben. Und sprechen Sie mir nicht von Brüssel. Warum sollte die Zentrale des Europäischen Bundes nicht in Den Haag liegen, nur um ein Beispiel zu nennen. Ich will neben der EU etwas Neues schaffen, nicht die EU verändern. Das ist ein anderes und viel schwierigeres Thema.
Als die Euro-Währungsunion vor einigen Jahren in eine Krise geriet, haben Sie mehr als viele andere vehement davor gewarnt, dass Schulden vergemeinschaftet werden und insbesondere die Anleihekäufe der EZB und die sogenannten Target-Salden problematisiert. Gilt das alles jetzt nicht mehr?
Doch, mehr denn je. Der Europäische Bund ist weder mit dem der EU noch mit dem Eurogebiet deckungsgleich. Er ist ein Staatenbund mit einer gemeinsamen Armee und der dazu gehörenden demokratischen Regierung, die für militärische Fragen und die Grenzsicherung zuständig ist. Ob dieser Bund eines Tages mit der EU fusioniert, wird sich zeigen. Vorläufig ist das keine relevante Frage. Weder von der Ohnmacht der EU noch vom Missbrauch der Währungsunion für fiskalische Rettungsaktionen wird er unmittelbar berührt. Die EU hat bei der Gründung des Bundes auch kein originäres Mitspracherecht, obwohl man sie natürlich konsultieren sollte. Wie gesagt: Der EU wurde die Verteidigungskompetenz durch die Europäischen Verträge nicht übertragen, und sie soll sie auch nicht bekommen.
Was ist der Preis, den die Deutschen für die „Vereinigten Staaten von Europa“ zahlen müssen – und was ist, rein ökonomisch gesprochen, die Leistung, die sie dafür bekommen?
Wenn Sie so wollen, dann liegt der Preis in der Unfähigkeit, selbständig Krieg zu führen. Aber das ist in Wahrheit gar kein Preis, sondern ein Vorteil. Gott bewahre uns vor einer Perspektive mit 25 hoch aufgerüsteten europäischen Armeen. Wollen wir etwa zurück in die Vergangenheit? Nur vereint sind wir sicher: vor einander und vor äußeren Feinden. Ökonomische Kosten treten nicht auf, im Gegenteil. Die Zusammenlegung der Armeen erleichtert und beschleunigt die Vereinheitlichung der Waffensysteme, was riesige Synergievorteile schafft.
Was müssen die übrigen europäischen Länder abgeben, an erster Stelle Frankreich?
Jeder muss all seine Waffen abgeben und der neuen, demokratischen Regierung unterstellen. Nur Polizeikräfte bleiben national. Die ökonomischen Funktionen bleiben bei den Nationalstaaten oder möglicherweise auch der EU. Allerdings braucht der Europäische Bund Steuereinnahmen für die Armee. Eine feste Anzahl von Mehrwertsteuerpunkten könnte ihm übertragen werden.
Sind die Hürden für eine tiefere Integration in Berlin oder Paris höher?
Sie sind in Paris höher, weil Frankreich über die Atomwaffe verfügt. Die anderen europäischen Länder könnten Frankreich und ebenso auch Großbritannien dafür mit einer Übertragung der Target-Forderungen der Mitgliedsländer kompensieren. Das sind immerhin bis zu 1,6 Billionen Euro, je nachdem, wer mitmacht. Frankreichs Target-Schulden von 200 Milliarden Euro ließen sich damit verrechnen.
Wie müssen die Briten eingebunden sein, wirtschaftlich, politisch, militärisch?
Da der Europäische Bund nicht an die EU gebunden ist, kann Großbritannien genauso mitmachen wie Deutschland. Das ist vielleicht sogar eine Chance, den Brexit wieder ein Stück weit zurückzunehmen.
Nehmen wir einmal an, dass das gelingt. Wie sieht dann unser Verhältnis aus zu Amerika?
Mit den USA bleibt der Europäische Bund über die NATO verbunden. Er nimmt eine ähnliche Rolle ein wie jetzt die USA selbst. Das würde das Bündnis stärken, aber natürlich auch Europa als ernst zu nehmenden Partner etablieren.
Und wie zu Russland und China?
Russland und China hätten Respekt. Es böten sich diesen Ländern auch große Chancen, denn eines ist klar: Mit der militärischen und politischen Stärke muss immer auch das Angebot einer Kooperation verbunden sein. Doppelbeschlüsse sind nötig. Unter dem Einfluss der USA hat sich Europa zu einer konfrontativen Politik der Osterweiterung der NATO hinreißen lassen. Der Europäische Bund täte gut daran, diese Politik aufzugeben. Es gilt, das Erreichte zu konsolidieren, aber die NATO noch nicht weiter nach Osten auszuweiten und Russland Sicherheitsgarantien zu geben. Zugleich sollte der Europäische Bund mit seiner Sicherheitspolitik dort ansetzen, wo Europa im Jahr 2001 schon war, als Putin die wirtschaftliche Anbindung an den Westen suchte, aber nicht bekam. Ein umfassendes Freihandelsabkommen mit Russland und letztlich auch China ist anzustreben. Dafür ist ein Ende des Ukrainekrieges natürlich die Grundvoraussetzung.
Ihr Buch endet so: „Der Warenaustausch durch Handel zwischen den Menschen ist kein Nullsummenspiel, sondern die Quelle des materiellen Wohlstands der Menschheit. Davon kann jeder etwas abbekommen. Handel führt zum ewigen Frieden, Krieg zum ewigen Chaos.“ Manche halten diesen Gedanken für überkommen – wieso glauben Sie weiter daran?
Der Handel hat sich während der letzten zehntausend Jahre der Menschheitsgeschichte als der hauptsächliche Treiber des Wohlstands und der Entwicklung der menschlichen Kultur erwiesen. Das derzeitige Handelsgezänk, das die USA ausgelöst haben, verblasst vor einer solchen Geschichte. Das ist eine vorübergehende Krankheit. Schon Kant wusste, dass nur der Freihandel den Frieden sichert.
Das Interview führte Alexander Armbruster.
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