WirtschaftsWoche, 24. Oktober 2025, Nr. 44, S. 37.
Alle paar Jahre ist es wieder so weit: Das Gespenst der Eurobonds kommt dann von Brüssel und Paris herangeflogen. Diesmal macht es Zwischenstation in Frankfurt: Laut einem Pressebericht hält Bundesbankpräsident Joachim Nagel Eurobonds zur Finanzierung von Rüstungsausgaben für eine Option.
Die Zielsetzung ist nachvollziehbar. Nichts ist derzeit wichtiger, als die Verteidigung Europas zu organisieren. Es wäre eine Katastrophe, wenn die 17 veritablen Armeen der EU der bestens ausgestatteten und kriegserprobten russischen Armee im heutigen Zustand entgegentreten müssten. Aber die Aufrüstung wird viele Jahre in Anspruch nehmen. Noch länger dürfte es dauern, die Waffensysteme zu harmonisieren. Aufrüstung ist wichtig, doch noch wichtiger wäre es, die vorhandenen Armeen unter ein gemeinsames Kommando zu stellen. Das ist keine Frage des Geldes. Sondern des Willens.
Noch so viel Geld für die Aufrüstung der europäischen Armeen ändert nichts daran, dass die 17 Armeen der 27 EU-Länder von 17 Regierungen und 17 nationalen Oberkommandos befehligt werden, die im Zweifel heillos zerstritten agieren würden. Solange dieses Problem nicht behoben ist, wird sich Putin nicht beeindrucken lassen. Die EU hat mit dem Euro gemeinsame Kassen geschaffen, doch keine politische Union. Eine politische Union, wie sie Adenauer und Kohl verstanden, ist durch ein Gewaltmonopol und eine gemeinsame Streitmacht definiert. Bei aller Begeisterung über den Euro haben die EU-Länder die Hauptsache schlichtweg vergessen und verdrängt.
Auch die NATO hat keine gemeinsame Streitmacht. Sie hat ein Oberkommando, aber das koordiniert nur jene nationalen Waffensysteme, die ihr im Verteidigungsfall explizit unterstellt werden. Jeder Mitgliedsstaat kann entscheiden, ob, wie viel und wie lange er zur gemeinsamen Verteidigung beiträgt.
Die EU hat bei der Verteidigung keinerlei rechtliche oder faktische Kompetenz, denn es gilt das Prinzip der Einzelermächtigung. Die EU darf nur tun, wozu sie in einem Vertrag zwischen den Mitgliedsländern ermächtigt wurde. Sie hat keine Kompetenz-Kompetenz. Sie kann nicht selbst beschließen, dass sie die Verteidigung der EU-Länder koordiniert oder gar zusammenfasst. Sie kann allenfalls beschließen, den Einzelstaaten für ihre Armeen Geld zu geben. Nur darum geht es ja bei den neuen Eurobonds-Vorschlägen.
Eine europäische Verteidigungskompetenz mit einer gemeinsamen Armee bedeutet einen erheblichen Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte. Sie lässt sich nur durch einen neuen Vertrag der Staaten schaffen. Das kann schnell geschehen, wenn der Wille besteht und die Not groß ist – aber nicht innerhalb der bestehenden EU, schon weil die notwendigen einstimmigen Entscheidungen dort nicht zustande kommen. Im Übrigen verfügt die EU nicht über ein demokratisch gewähltes Parlament, das dem One-person-one-vote-Prinzip genügt. Die Einwohner der kleinen Länder haben ein Vielfaches der Stimmrechte der großen. So verfügt ein Maltese im EU-Parlament über zehn mal so viel Stimmrecht wie ein Deutscher. Bei rein finanziellen Fragen ist das vielleicht noch tolerierbar, doch nicht, wenn es um Leben und Tod geht.
Nötig und möglich wäre es, einen europäischen Verteidigungsbund der willigen Länder zu gründen, dem die Mitglieder ihre Streitkräfte unterstellen. Auch Großbritannien und Norwegen könnten eingeladen werden mitzumachen. Dieser Bund könnte dann in ähnlicher Form wie die 50 Staaten der USA der NATO unterstellt werden. Ein demokratisch gewähltes Parlament würde, kontrolliert von einer zweiten Kammer, die die Länder repräsentiert, eine Verteidigungsregierung wählen, die das Oberkommando hätte. Die gemeinsamen Streitkräfte könnten durch eine Beteiligung an der Mehrwertsteuer der Mitgliedstaaten finanziert werden. In einer Aufbauphase und als Anreiz mitzumachen, ließe sich dann auch über gemeinsame Schulden reden.
Eurobonds, wie sie die EU auszugeben beabsichtigt und die Bundesbank nun offenbar befürwortet, würden hingegen den europäischen Flickenteppich bei der Verteidigung perpetuieren und das heutige System unabhängiger Streitkräfte zementieren. Sie wären eine gemeinsam finanzierte Prämie für die Unterlassung der Anstrengung, eine politische Union zu gründen. Nur ein unverbesserlicher Idealist kann davon ausgehen, dass dies die militärische Abschreckung des Westens stärkt. Eurobonds würden die Bereitschaft der europäischen Länder schwächen, sich zu einer Verteidigungsgemeinschaft zusammenzutun. Gott bewahre uns vor einer solch fatalen Fehlentscheidung!
Eine noch weitergehende Analyse zur europäischen Sicherheitspolitik liefert der langjährige WirtschaftsWoche-Gastautor Hans-Werner Sinn in seinem soeben erschienenen Buch „Trump, Putin und die Vereinigten Staaten von Europa“ (Herder-Verlag)
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