t-online, 18. November 2025.
Überall Konflikte, Deutschland steckt tief in der Krise: Wie kann es trotz Wirtschaftseinbruch, russischen Drohungen und Trumps Zollpolitik wieder aufwärts gehen? Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat konkrete Vorschläge für die Bundesregierung.
Wirtschaftlich steigt Deutschland ab, politisch zählt die Stimme der Bundesregierung in einer Welt zwischen Angriffskrieger Putin und MAGA-Anführer Trump immer weniger. Hans-Werner Sinn, der zu den renommiertesten deutschen Ökonomen zählt, hat früh vor Fehlentwicklungen in der Klima- und Wirtschaftspolitik gewarnt.
Welche politischen Fehler führten zu der gegenwärtigen Misere? Aus welchem Grund setzt Trump die Welt wirklich mit seinen Zöllen unter Druck? Und wie können sich die Bundesrepublik und Europa wirkungsvoll gegen das aggressive Russland schützen? Hans-Werner Sinn, dessen Buch "Trump, Putin und die Vereinigten Staaten von Europa" kürzlich erschienen ist, gibt im t-online-Interview Antworten.
t-online: Herr Sinn, wie steht es um Deutschland und seine Wirtschaft?
Hans-Werner Sinn: Die Lage ist dramatisch, das geht so nicht mehr lange gut. Seit sieben Jahren beobachten wir einen Trendbruch in der Industrieproduktion. Viele dachten an einen konjunkturellen Effekt, der bald verschwinden würde. Das war ein Irrtum.
Haben die Regierenden diese Dramatik erfasst?
Ich hoffe es. Die Klimapolitik und die Sanktionspolitik gegenüber Russland, die uns billiger Bodenschätze und billiger Energie beraubt, führen zur Deindustrialisierung. Dazu kommt der fehlende Nachwuchs der Babyboomer.
Sie können doch nicht abstreiten, dass der Klimaschutz erforderlich ist.
Tue ich das? Aber tatsächlich funktioniert die europäische Klimapolitik nicht, weil sie die Energie verteuert, ohne das Klima zu schützen. Deswegen kann sie so nicht bleiben. Immer mehr Unternehmen verlagern wegen der hohen Stromkosten und der Verbrennerverbote die Produktion ins Ausland. Die Vorgaben der EU erzwingen die Deindustrialisierung. Und leider fließen die meisten Brennstoffe, die wir nicht mehr kaufen, zu unseren Rivalen auf den Weltmärkten, wo dann genauso viel CO2 in die Luft geblasen wird, wie wir vermeiden.
Für Ihre Kritik am Aus für Verbrennermotoren 2035 ernten Sie harten Widerspruch. Ficht Sie das an?
Nein. Das Öl, das wir nicht mehr abnehmen, wird anderswohin geliefert und dort verbrannt. Dieses empirische Faktum muss man endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
Besser wäre es, die in Europa nicht mehr benötigten fossilen Brennstoffe blieben in der Erde.
Das ist aber nicht der Fall. Leider. Während der letzten 40 Jahre gab es nur ein einziges Mal eine Reduktion der globalen Ölförderung: während der Corona-Krise. Corona hat gezeigt, dass weltweite Anstrengungen zur Verminderung der Öl-Nachfrage sehr wohl erfolgreich wären. Aber es müssten fast alle mitmachen. Dann könnte man den Ölpreis so weit drücken, dass er droht, unter die Extraktionskosten zu fallen, wie während der Corona-Krise. Alleine schaffen wir Europäer und die wenigen anderen Länder, die noch mitmachen, das aber nicht. Wir erreichen nicht nur wenig, sondern nichts.
Sie verlangen ernsthaft, dass Deutschland wieder stärker auf Gas, Öl und Kohle setzen sollte?
Nicht auf die Braunkohle. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, mit denen Deutschland überhaupt einen kleinen Einfluss auf den weltweiten Ausstoß an Kohlenstoffdioxid nehmen kann. Die erste besteht darin, die bei uns reichlich vorhandene Braunkohle in der Erde zu belassen. Die zweite ist, das bei Produktionsprozessen frei werdende Kohlenstoffdioxid abzuscheiden, zu verflüssigen und irgendwo unter den Meeresboden zu pumpen. Das ist zwar sehr teuer, aber es wirkt. Alles andere bringt für das Klima nichts. Die grünen Technologien zur Stromerzeugung sind deswegen nicht nutzlos. Sie haben den Vorteil, dass sie bei passender Wetterlage eine gewisse Mindestversorgung mit Strom sichern. Das muss man anerkennen.
Deutschland und die EU wollen eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz einnehmen. Ist das etwa falsch?
In der Form des einseitigen Verzichts auf international handelbare Brennstoffe ist es falsch. Andere Länder sehen an unserem vergeblichen Bemühen nur, wie man es nicht machen sollte. Europa und speziell Deutschland ist wegen seiner ruinösen Klimapolitik zum abschreckenden Beispiel geworden.
Sie haben die Deutschen als "ökonomische Analphabeten" bezeichnet.
Die Deutschen neigen zum Idealismus und wollen ökonomische Gesetze nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist gefährlich. So war es schon beim Sozialismus, der ebenfalls in Deutschland entstand: Plötzlich scharten sich alle hinter einer toll klingenden Utopie, ohne deren brutale Folgen zu bedenken. Auch die unilaterale Klimapolitik mit moralisch erhobenem Zeigefinger richtet großen Schaden an.
Wohin wird der eingeschlagene Weg Ihrer Ansicht nach führen? Die EU-Staaten wollen den CO2-Ausstoß bis 2050 auf null senken.
Deutschland will ja schon in 20 Jahren bei null ankommen. Das ist die reinste Utopie, noch absurder als der Sozialismus. Der Weg würde Deutschland verarmen lassen. Was viele nicht wissen: Das verarbeitende Gewerbe – 20 Prozent des deutschen Inlandsprodukts – erzeugt Güter, die im internationalen Wettbewerb stehen. Die Löhne, die dort gezahlt werden, sind bei vergleichbarer Qualifikation Mindestlöhne für alle Binnensektoren. Wer weniger zahlt, kriegt keine Leute. Auch der Lebensstandard der in den Binnensektoren beschäftigen Menschen hängt damit an der Industrie.
Was schlagen Sie vor?
Deutschland ist herzkrank geworden durch die Verbrennerverbote der EU. Es braucht eine Operation am offenen Herzen. Vor allem die CO2-Flotten-Grenzwerte sind verheerend. Ingenieurtechnisch ist es unmöglich, bis 2030 Verbrennungsmotoren zu entwickeln, die mit nur 1,8 Litern Dieseläquivalenten laufen, wie die EU es implizit vorschreibt.
Wie kann die EU etwas vorschreiben, was gar nicht geht?
Die Erreichung der verschärften Grenzwerte soll durch Elektromotoren gewährleistet werden, die in der EU-Formel mit einem CO2-Ausstoß von null angesetzt werden. In Wahrheit sind Elektroautos überall in Europa – bis auf Frankreich mit seiner Atomkraft – auch Kohle- und Gasautos, denn überall wird ein erheblicher Teil des Stroms in Kohle- und Gaskraftwerken hergestellt. Die EU-Formel basiert also auf einer Schummelei.
Was raten Sie Kanzler Merz zu tun?
Er sollte eine europäische Koalition bilden, um die CO2-Verordnung zu kippen. Sodann sollte er die angewandte Forschung im Bereich neuer modularer Thorium-Reaktoren und innovativer Fusionsreaktoren mit staatlichen Mitteln subventionieren und prüfen, welche der abgeschalteten Kernreaktoren er wieder anschalten kann. Jetzt geht es um die Wurst.
Trauen Sie der schwarz-roten Koalition die notwendigen Wirtschafts- und Sozialreformen zu?
Schwer zu sagen. In Teilen verfolgt die neue Regierung den gleichen Irrweg wie die alte. Der Aufbruch zu neuen Ufern ist nicht erkennbar. Sie macht sogar noch mehr Schulden als die alte. 2,5 Billionen Euro sollen nach der Änderung des Grundgesetzes in drei Legislaturperioden aufgenommen werden. Das verdoppelt die deutsche Staatsschuld in zwölf Jahren. Der Schluck aus der Schuldenpulle ist zu groß. Er wird uns noch kränker machen. Viel von dem Schuldengeld fließt in Sozialtransfers und viel zu wenig in die Infrastruktur. Zum Glück kommt die Rüstung nicht zu kurz. Allein hier sehe ich Lichtblicke.
Drohen Deutschland Verhältnisse wie in Frankreich?
Die Franzosen haben im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt eine fast doppelt so hohe Schuldenlast wie wir. Die USA sind sogar noch stärker verschuldet. Deutschland eifert diesen Ländern nun nach.
Sind Schulden das Letzte, was Amerikaner und Europäer noch verbindet?
Die Amerikaner haben über Jahrzehnte eine gewaltige Schuldenorgie gefeiert. Nun sind sie total überschuldet. Der Staat, die privaten Haushalte und die Unternehmen zusammengenommen haben eine Nettoauslandsschuld von 91 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ein internationaler Rekordwert. Das halten die USA niemals durch, obwohl Trump nun überall auf der Welt Geld einsammelt.
Ist die Verschuldung also der wahre Grund für Trumps Zollpolitik?
Ja, das ist der eigentliche Grund. Und auch die Erklärung, warum Trump sich die Waffen für die Ukraine zweimal bezahlen lässt. Zum einen von den nördlichen Ländern Europas, allen voran Deutschland, und zum anderen von der Ukraine, die dafür die Hälfte ihrer Bodenschätze abtreten muss. Finanziell pfeifen die USA auf dem letzten Loch.
Was geschieht, falls die globale Schuldenblase platzt?
Ein hartes Ende ist noch nicht in Sicht. Trump versucht, die Zentralbank der USA zu Zinssenkungen zu zwingen, um weiterhin an billiges Geld zu kommen. Er will im nächsten Frühjahr den amerikanischen Zentralbank-Chef gegen jemanden austauschen, der ihm gefügig ist.
Was, wenn noch einmal eine plötzliche Großkrise wie eine Pandemie auftritt?
Dann gäbe es beim Finanzsystem eine Kernschmelze. Exorbitante Vermögensverluste wären die Folge. Die Zentralbanken und die Staaten werden zum Glück alles versuchen, das zu verhindern.
In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie nun Europas Dilemma zwischen Trump und Putin. Wie können die Europäer sich behaupten?
Nach dem Zweiten Weltkrieg war den Regierungen Westeuropas klar, dass sie sich zusammenschließen müssen, um Frieden und Wohlstand zu sichern. Es gab Bestrebungen, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu gründen. In den Fünfzigerjahren wurde leider nichts daraus. Den nächsten großen Versuch in dieser Richtung unternahm Helmut Kohl. 1982 erklärte er die Gründung einer politischen Union zum Hauptanliegen seiner Amtszeit.
Der französische Präsident François Mitterrand hielt aber wenig davon.
Mitterrand wollte das nicht, weil er die Deutschen von der Force de Frappe, der französischen Atomwaffe, fernhalten wollte. Eine politische Union ist im Kern immer eine militärische Union. Kohl wollte eine gemeinsame europäische Armee inklusive der französischen Atomstreitmacht. Die Franzosen wollten dagegen die D-Mark sozialisieren. Daher bestand Mitterrand darauf, dass dem von Kohl verlangten Verteidigungsrat ein Wirtschafts- und Währungsrat zur Seite gestellt wurde.
Aber dann fiel die Mauer in Berlin.
Deutschland wollte sich wiedervereinigen. Also ließ Mitterrand sich die deutsche Einheit durch die Bildung der Währungsunion abkaufen. Dabei drohte er sogar mit Krieg, man glaubt es kaum. So konnte er die politische Union Europas verhindern und stattdessen allein die Währungsunion durchsetzen. Von einer Zusammenlegung der europäischen Armeen war plötzlich nicht mehr die Rede. Weil sich Mitterrand damals durchsetzte, stehen wir Putin heute blank gegenüber.
Sie schlagen nun jenseits der EU einen Europäischen Bund vor, um Europas Verteidigungsfähigkeit zu stärken.
Die EU ist außerstande, diese Aufgabe zu übernehmen. Sie hat viel zu komplizierte Entscheidungsprozesse mit allerlei Sperrminoritäten, und sie hat in Verteidigungsdingen kein Mandat durch die Verträge erhalten. Also müssen wir eine neue Institution schaffen: einen Europäischen Bund.
Was soll dieser tun?
Der Europäische Bund soll nichts anderes tun, als die Armeen der willigen Länder zusammenzuführen und gemeinsam zu befehligen. Die Befehlsgewalt soll bei einer gemeinsamen Regierung liegen, die von einem kleinen, demokratisch gewählten Verteidigungsparlament gewählt und kontrolliert wird.
Klingt nach einer Parallelstruktur zur EU und noch mehr Bürokratie.
Gar nicht! Der Europäische Bund würde nur dort tätig, wo die EU es gar nicht darf. Er ersetzt die vielen nationalen Verteidigungsministerien mit ihren separaten Beschaffungssystemen und macht die Verteidigung billiger und schlagkräftiger. Nur dieser Bund kann uns wirksam vor Putins Waffen und Trumps Anmaßungen schützen.
Welche Staaten sollten in Ihrer Verteidigungsunion mitmachen?
Nur Nato- und EU-Länder. Die Ukraine also nicht. Auch Großbritannien und Norwegen könnten mitmachen. Die willigen Länder würden sich unter dem Dach der Nato zusammenschließen und nachholen, was 1989 versäumt wurde. Die EU braucht man dafür noch nicht einmal zu fragen.
Halten Sie so eine tiefgreifende Veränderung im notorisch unentschlossenen Europa wirklich für möglich?
Ja, weil ich es für möglich halte, dass Russland die Ukraine im Endeffekt erobert und dann die Hand nach dem Baltikum ausstreckt, um die dort lebenden Russen zu "befreien", wie Putin es wohl ausdrücken würde. Auch wenn ich dieser Möglichkeit nicht die größere Wahrscheinlichkeit zuordnen würde, ist sie als solche gefährlich genug, um damit den Europäischen Bund zu begründen.
Wie schnell könnte dieser Bund entstehen?
Den Bund kann man aus dem Stand heraus bilden, wenn man es nur will. Die Europäische Währungsunion, die auch nicht deckungsgleich mit der EU ist, wurde in nur drei Jahren ausverhandelt. Die Vorteile eines Europäischen Bundes mit einer starken Armee liegen auf der Hand: Der Bund hätte eine gewaltige Abschreckungswirkung und würde einen massiven Sicherheitsgewinn für uns Europäer bedeuten, lange bevor es gelingen kann, die Waffensysteme zu harmonisieren. Einen Angriff Russlands auf den Europäischen Bund könnte Putin niemals wagen.
Herr Sinn, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führten Florian Harms und Marc von Lüpke.
Nachzulesen auf www.t-online.de.