„Man wurde schuldensüchtig“

Die Presse, 26. März 2025, S. 18.

Die Milliarden-Schuldenpakete würden die Inflation anfachen und zu einem Rückgang deutscher Exporte führen, sagt Top-Ökonom Hans-Werner Sinn. Von Friedrich Merz ist er enttäuscht.

Die Presse: Herr Professor Sinn, Sie gelten als Verfechter solider Staatsfinanzen. Wie bewerten Sie das gewaltige Schuldenpaket für Verteidigung und Infrastruktur, das in Deutschland gerade beschlossen wurde?

Hans-Werner Sinn: Das ist ein Regimewechsel für Deutschland. Deutschland fügt sich jetzt in die Reihe der unsolideren Länder im Mittelmeerraum ein. 

Die deutsche Staatsschuldenquote liegt aktuell bei 63 Prozent, das ist im internationalen Vergleich immer noch sehr solide. Mit welcher Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP rechnen Sie in den nächsten Jahren, wenn man dieses riesige Finanzpaket hinzurechnet?

Das lässt sich schwer vorhersagen. Schuldenpakete dieser Größenordnung haben auch enorme Effekte auf Konjunktur, Inflation und Zinsen. Erstmal wird es dadurch sicherlich ein bisschen Wachstum geben, und danach gibt es vor allem wieder viel Inflation. Beides würde bedeuten, dass die Schuldenquote mittelfristig begrenzt bleibt. 

Sie rechnen damit, dass ein erheblicher Teil dieses Geldes die Inflation ankurbeln wird?

Ja. Wir kommen dadurch in Deutschland in dasselbe Fahrwasser wie die mediterranen Länder, die sich ja immer fleißig verschuldet haben, indem sie die Nachfrage mittels Staatsschulden über die Produktionskapazitäten hinausgetrieben haben. Dadurch wurde das Bruttoinlandsprodukt nominal aufgebläht. Trotz der enorm angestiegenen Verschuldung hat sich die Schuldenquote in diesen Ländern dadurch wieder halbwegs stabilisiert. Das war so schön, dass man es immer wieder machen wollte. Man wurde schuldensüchtig.

Welche Effekte kann man daraus für das nun geplante Billionenpaket vorhersagen?

Die Sparer werden zumindest in den ersten Jahren, vermutlich aber auch langfristig die großen Verlierer sein, zumal der Staat nicht zögern wird, die inflationär erhöhten Scheinzinsen, die sich einstellen werden, zu besteuern. Dazu kommt, dass das zukünftige Preisniveau durch die Inflation unsicher wird, weil weder der Gläubiger noch der Schuldner weiß, worauf er sich bei einem Kreditvertrag einlässt. Die Konsequenz ist, dass es keine langfristigen Festzinsverträge mehr geben wird, was insbesondere zulasten langfristiger Investitionen geht.

Ökonomen prophezeien, dass dieses Riesen-Schuldenpaket die Konjunktur mittelfristig um zwei Prozent jährlich anschieben wird, gleichzeitig warnen einige vor einer Blase.

Da bildet sich mit Sicherheit eine Blase. In der Blase wird Deutschland im Verhältnis zu den Nachbarn immer teurer, bis die Blase wegen zurückgehender Exporte platzt. Es steht uns eine Entwicklung bevor, wie sie die Mittelmeerländer in den ersten fünfzehn Jahren nach der Euro-Einführung hatten. 

Eine ähnliche Entwicklung sehen wir auch in Österreich. Beide Länder sind stark von ihren Exporten abhängig und so auch anfällig für die Zollpolitik von Donald Trump. Wie beurteilen Sie die aktuelle wirtschaftspolitische Rolle der USA? 

Vor allem die Kapitalmärkte sind in diesem Zusammenhang wichtig. Wir sehen gerade, wie stark der Dollar als Reaktion auf Trumps erratische Handelspolitik abwertet. Das Kapital läuft aus Amerika weg, aus Furcht vor der Irrationalität und Brutalität des Weißen Hauses. Solche Auf- und Abwertungseffekte haben immer auch Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit. Ein Land, dessen Währung abwertet, hat den Vorteil, dass es wettbewerbsfähiger wird. Das kommt Trump jetzt indirekt zupass. Er bekommt zwar eine importierte Inflation, die Schwäche des Dollar hilft aber, die drohende Rezession abzumildern.

Könnte er das gar so intendiert haben? 

Nein, ich glaube nicht, dass man so weit gedacht hat. Die Kapitalabwanderung und der Kurssturz an den amerikanischen Börsen setzten exakt am 28. Februar ein, als Trump Selenskij vor den Fernsehkameras der Welt im Weißen Haus gedemütigt hat. Das war eine derart absurde Show, dass die Anleger mit Entsetzen reagierten. Es ist aber kein System, es ist einfach nur die erratische Politik einer Regierung, die nicht weiß, was sie tut.

Richten wir unseren Blick noch einmal auf Deutschland. Dort wird Friedrich Merz aller Voraussicht nach der nächste Kanzler. Sind Sie enttäuscht, dass er nach der Wahl so schnell von einigen seiner wichtigsten Wahlversprechen abgerückt ist, gerade was die Finanz- und Wirtschaftspolitik betrifft?

Die Enttäuschung kann ich nicht verhehlen. Man hätte die Schuldenfinanzierung der Aufrüstung auch mit einfacher Mehrheit im neuen Bundestag beschließen können, indem man einen Notstand erklärt. Das Grundgesetz sieht vor, dass man in einem solchen Fall die Schuldengrenze nicht beachten muss und sich in hohem Maße verschulden darf, um diesen Notstand zu beheben. 

Eine solche Notstandserklärung müsste dann allerdings jährlich verlängert werden, das kann doch auch nicht Sinn der Sache sein.

Es reicht dann aber ein einfacher Verlängerungsbeschluss. Man kann auch von vornherein langfristige Lieferverträge mit der Rüstungsindustrie schließen. Die Erklärung des Notstands hätte alle Schuldengrenzen mit einfacher Mehrheit aufgehoben, ohne dass es der abgewählten Partei der Grünen aus dem alten Bundestag bedurft hätte. Und was könnte ein größerer Notfall sein als Putin vor der Haustür? Und ein Trump, der Putin sagt, er könne mit Europa tun, was er wolle, wenn es nicht zahlt? 

Nebenbei wurde auch ein 500-Milliarden-Sondervermögen für Infrastruktur geschaffen. Dass es hier großen Handlungsbedarf gibt, ist auch seit vielen Jahren evident.

Der Beifang von 500 Milliarden für die Infrastruktur war ein unnötiger Teil des Schuldenpakets. Den hätte man mit Steuern finanzieren können und müssen. Natürlich freuen sich die Koalitionäre darüber, weil sie dann die offenkundigen Verteilungsprobleme mit neuem Geld zudecken können und die Lasten denjenigen aufbürden können, die noch nicht verstehen, was ihnen blüht. Das sind zum einen die jetzt noch jungen Menschen, die Zins und Tilgung werden bezahlen müssen. Und zum anderen sind es die Sparer, die die Lasten der Inflation werden tragen müssen. Es werden keine materiellen Ressourcen und auch keine Facharbeiter vom Himmel fallen. Viele der vorhandenen Facharbeiter werden im Gegenteil in die Rente gehen und sich nicht mehr am Produktionsprozess beteiligen. Insofern besteht gar nicht die Möglichkeit, nach Belieben Panzer und Brücken zu erzeugen, während gleichzeitig der Konsumstandard gesichert wird. Der Versuch, beides trotz der schrumpfenden Facharbeiterzahl zu schaffen, wird sich unweigerlich in einer neuen Inflationswelle äußern. 

Ein solches Investitionspaket würde Ihrer Meinung nach also nur dann Sinn ergeben, wenn die Produktionsmittel – im Wesentlichen Personal und Kapital – auch im nötigen Ausmaß verfügbar wären?

Wenn nicht, müsste man eine Steuer erhöhen wie beispielsweise die Mehrwertsteuer, um einen anderen Sektor zurückzudrängen und die Überforderung des Arbeitsmarktes und mit ihr die Inflation in Grenzen zu halten. 

Das wäre politisch nicht sehr populär.

So ist es. Die Wahrheit ist manchmal schmerzlich. Aber warum sagt man nicht den Leuten, wie es ist? Dass sie ärmer werden durch diese Aufrüstung. Und die Aufrüstung aber trotzdem nötig ist, damit das Leben sicherer wird. Warum sagt ihnen keiner, dass der materielle Wohlstand sinken muss, damit man neue Panzer und Drohnen bauen kann? Wir brauchten jetzt eigentlich eine „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede. Warum glaubt die Politik, dass die Leute so dumm sind, dass man ihnen in einer solchen Krise keinen reinen Wein einschenken kann? 

Es scheint, als würde es in der Politik an Leuten fehlen, die das Format haben, im Zweifel schmerzhafte Einschnitte von der Bevölkerung einzufordern und das auch klar zu kommunizieren. Trauen Sie das Merz zu?

Ich hatte es ihm zugetraut. Ob ich das immer noch tue, weiß ich nicht. 

 

Das Interview führte David Freudenthaler.

Nachzulesen auf www.diepresse.de.