"Für Kinderlose muss die Rente halbiert werden"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.07.2002

Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn über alternde Gesellschaften und die Frage, warum junge Menschen wieder Kinder kriegen sollen

Herr Sinn, im Jahr 2050 ist Deutschland das älteste Volk der Erde. Ist der Abstieg Deutschlands als drittgrößte Wirtschaftsmacht damit vorprogrammiert?

Deutschland wird zurückfallen. Das Land wird volkswirtschaftlich an Dynamik verlieren. Das Wirtschaftswachstum wird sinken. Und: Wenn keine jungen Menschen mehr nachkommen, wird es ein wachsendes Problem der Arbeitslosigkeit geben.

Das Problem haben wir heute schon. Bei sinkender Bevölkerung dürfte es eher abnehmen.

Dieser Gedanke ist falsch. Denn wir haben keine feste Zahl von Arbeitsplätzen in Deutschland. Wenn die Bevölkerung schrumpft, wird nicht nur die Zahl der Arbeitnehmer, sondern vor allem auch die Zahl der Arbeitgeber geringer. Bedenken Sie, daß Arbeitgeber junge Leute sind und daß Arbeitsplätze vor allem in neuen Unternehmensgründungen entstehen.

Wenn die Politik auf die sich abzeichnende Entwicklung nicht reagiert, was passiert dann?

Dann wird der Druck noch größer werden, durch Zuwanderung die Lücken zu schließen, die sich am Arbeitsmarkt ergeben. Diese Problematik wird uns vom Jahr 2015 an beschäftigen, weil dann das Arbeitskräftepotential beginnt abzubrechen.

Sie sagen das so nüchtern. Das heißt doch, daß wir auf eine Krise der Sozialsysteme zusteuern...

...die im Jahr 2035 ihren Höhepunkt erreicht, wenn sich die Zahl der Alten im Verhältnis zu den Jungen mehr als verdoppelt haben wird - unabhängig davon, wie Sie die Grenzen setzen, ob bei 60 oder 65 Jahren.

Dann machen Sie bitte jetzt noch die Rechnung für die künftigen Rentenbeiträge auf.

Wollte man die Renten relativ zu den Bruttolöhnen konstant halten, so müßte sich der Beitragssatz von jetzt 20 Prozent auf 40 Prozent verdoppeln, und wollte man den Beitragssatz konstant halten, dann würden sich die Renten relativ zu den Bruttolöhnen halbieren. In diesem Spektrum kann sich die Politik einen Punkt aussuchen, aber zaubern kann sie nicht.

Bevor Sie uns sagen, was ein Ökonom der Politik in dieser Lage rät, noch eine Frage: Warum altert die Bevölkerung?

Alle Industriegesellschaften haben das Problem der alternden Bevölkerung. Das liegt an dem Geburtenrückgang und der steigenden Lebenserwartung.

Warum wollen die Menschen in Deutschland keine Kinder mehr?

Da wirken viele Faktoren zusammen: die wachsende Berufstätigkeit und die seit mehreren Jahrzehnten steigenden Löhne der Frauen. Die Verbesserung der Chance für die Frau ist natürlich zu begrüßen. Man muß aber sehen, daß auf diese Weise die Opportunitätskosten, also der Verlust durch den Verzicht auf den Beruf, für das Aufziehen von Kindern erhöht wurde. Dann kommt das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie...

...das ja gemeinhin als Hauptgrund für den Geburtenrückgang angeführt wird...

...das man aber schon längst gelöst hätte, wenn es nicht einen gravierenderes ökonomisches Motiv für die Kinderlosigkeit gäbe. Ich meine hier die Rentenversicherung selbst. Das Umlageverfahren kommt durch die Kinderlosigkeit in die Krise, aber es hat diese Kinderlosigkeit selbst hervorgerufen.

Warum?

Weil eine Rentenversicherung eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit ist. Diese Versicherung kann man legitimieren wie eine normale Versicherung: Menschen, die keine Kinder haben können, lassen sich im Alter von den Kindern anderer Leute ernähren. Sofern die Kinderlosigkeit ein zufälliges Ereignis ist, handelt es sich um eine Versicherung.

Jetzt werden Sie sagen, daß in Deutschland hier nicht mehr der Zufall regiert.

Das ist der Punkt. Wie jede Versicherung ruft auch die Rentenversicherung eine Verhaltensänderung hervor, die die Idee der Versicherung untergräbt. Wir Ökonomen nennen das "moral hazard".

Das müssen Sie erklären.

Die Verhaltensänderung liegt darin, daß die Menschen weniger Kinder bekommen haben. Seit Bismarck die Rentenversicherung eingeführt hat, hat man Generation für Generation gelernt, daß man im Alter auch ohne Kinder sein Auskommen hat. Lebensmuster, die früher die Ausnahme waren, weil sie nicht funktionierten, haben sich unter dem Schutz der Rentenversicherung etablieren können. Man sieht eben, daß die Tante, die keine Kinder, sondern nur ihre Rente hat, im Alter auch zurechtkommt. So ist der Zusammenhang zwischen Alterskonsum und der eigenen Kinderzahl seit Bismarck allmählich aus den Köpfen der Menschen verschwunden.

Sie behaupten, daß heute junge Menschen keinen Zusammenhang mehr sehen zwischen ihrem Dasein im Rentenalter und der Zahl der Kinder.

Dieser Zusammenhang existiert in den Köpfen der jungen Paare nicht mehr. Das, ist der beste Beleg dafür, wie stark unser Rentensystem das regenerative Verhalten verändert hat.

Dabei funktioniert die Rentenversicherung ja nur, wenn auch Kinder da sind.

Richtig, makroökonomisch hat sich seit Bismarck daran in der Tat nichts geändert. Der Umstand, daß wir den Ressourcentransfer von den Kindern an die Alten durch die Rentenversicherung kollektiviert haben, ändert ja nichts daran, daß es ohne Kinder keine Renten gibt.

Was individuell rational ist, ist für die Gesellschaft insgesamt nicht mehr förderlich?

Und das ist eine Frage der institutionellen Anreize. Man muß zwischen individueller und kollektiver Rationalität wieder Kongruenz herstellen.

Wie macht man das?

Indem man den Eltern einen größeren Teil der Rente, die sie dadurch erwirtschaften, daß sie Kinder aufziehen, beläßt. Konkret: Man sollte die Rentenkürzungen, die notwendig werden, für jene Personen nicht vornehmen, die über eine hinreichende Zahl von Kindern verfügen, die sie großgezogen haben. Denn diese Kinder leisten die Beiträge. Bei denen, die keine Kinder haben, sollte man die umlagefinanzierten Renten kürzen - sagen wir mal auf die Hälfte. Das muß man ihnen rechtzeitig mitteilen, damit sie Gelegenheit haben, dagegen anzusparen.

Das klingt fast nach Bestrafung.

Darum geht es nicht. Menschen, die keine Kinder großziehen, haben ja das Geld, das andere in die Erziehung der Kinder stecken, übrig. Dieses Geld können sie am Kapitalmarkt anlegen, um sich damit die eigene Rente zu finanzieren. Wenn ich das einmal auf einen platte Formel bringen darf, dann muß man, um im Alter versorgt zu sein, entweder Humankapital oder Realkapital bilden.

Und wenn man beides nicht tut...

...dann muß man hungern. So ist das gesamtgesellschaftlich. Menschen, die Humankapital gebildet haben, indem sie viel Geld und Zeit in die Ausbildung und Erziehung ihrer Kinder investiert haben, haben einen Beitrag zur Finanzierung des Alterskonsums geleistet. Und andere, die das nicht getan haben, haben diesen Beitrag nicht geleistet.

Aber die zahlen doch ihre Rentenbeiträge?

Natürlich zahlen sie einen Rentenbeitrag. Aber dieser Rentenbeitrag ist kein Beitrag zur eigenen Alterssicherung. Er ist nur juristisch so konstruiert. Ökonomisch liegt die Sache anders, weil das ganze Geld ausschließlich an die Generation der jetzt Alten fließt. Nach dem Umlageverfahren kommt eine Rente nur zustande, wenn Kinder da sind. Und wer keine Kinder hat, hat auch keinen Beitrag geleistet. Mein Vorschlag: Eine volle Riester-Rente und eine halbierte Umlagerente für die Kinderlosen und die volle Umlagerente für die Eltern.

Angenommen, wir lassen uns auf Ihren Vorschlag ein und ändern morgen die Rentenformel, wie schnell ändert sich das Verhalten der jungen Leute?

Das hängt davon ab, wie stark man den Menschen diese Zusammenhänge klarmacht. Wenn sich eine neue Regierung des Themas annähme und die neue Rentenformel den Menschen erklärte, dann könnte es schon noch einmal einen Schub geben. Denken Sie daran, daß im Bereich der jetzt 35jährigen die weitaus stärksten Gruppen in der Bevölkerung liegen. Warten wir allerdings noch zehn Jahre, dann ist die Chance vertan. Denn dann befinden sich nur noch die geburtsschwachen Jahrgänge im reproduktionsfähigen Alter, und die Effekte einer Veränderung des Reproduktionsverhaltens wären viel geringer. Die jetzt 35jährigen werden in dreißig Jahren das Problem für die Rentenversicherung sein. Ihnen fehlt heute der Nachwuchs.

Wieviel Zeit haben wir noch für große politische Reformen?

Sie müssen bald kommen. Denn mit fortschreitender Zeit und einer. weiteren Änderung der Altersstruktur schwindet die Mehrheit für Rentenreformen dieser Art. Im Jahr 2020 wird es diese strategische Mehrheit nicht mehr geben. Dann werden diejenigen, die von einer Ausweitung des umlagefinanzierten Rentensystems zu Lasten der Jüngeren profitieren, die Mehrheit unter den Wahlberechtigten haben. Dann kippt Deutschland und wird zur Gerontokratie.

Das Gespräch führte Inge Kloepfer

Empirische Forschung und Politikberatung

Hans-Werner Sinn wurde im März 1948 im westfälischen Brake geboren. Nach dem Studium der Volkswirtschaft in Münster und in Mannheim wurde er 1984 auf den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Versicherungswirtschaft der Ludwig-Maximilians-Universität in München berufen. Seit Februar 1999 ist er Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Er gilt als einer der renommiertesten Vertreter seines Fachs. Dabei scheut sich Sinn nicht, als Politikberater klare Worte zu sagen, wie seiner Ansicht nach Reformen der sozialen Sicherungssysteme aussehen sollten.

Das Institut für Wirtschaftsforschung entstand im Januar 1949 aus dem Zusammenschluß der Informations- und Forschungsstelle für Wirtschaftsbeobachtung mit dem Süddeutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Es hat die Rechtsform des eingetragenen Vereins. Zu den Gründervätern gehörte auch Ludwig Erhard, damals bayerischer Wirtschaftsminister. Profil gewann das Ifo-Institut mit der empirischen Wirtschafts- und Sozialforschung. Einmal im Monat veröffentlicht es den Geschäftsklima-Index, der auf Umfrageergebnissen des Konjunkturtests beruht.

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