Das ökonomische Abschlusszeugnis für Angela Merkel

Die wirtschaftspolitische Bilanz nach vier Amtsperioden ist durchwachsen: Die Politik entfernt sich in rasantem Tempo von der Marktwirtschaft.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche Nr. 52, 13. Dezember 2019, S. 47.

Angela Merkel steht in der Mitte ihrer vierten Amtszeit. Doch die Koalition bröckelt, weil sich die SPD radikalisiert, und die Kanzlerin hat erklärt, dass sie nicht mehr antreten will. Nur die Angst vor Neuwahlen hält die Koalition noch zusammen. Zeit also für eine ökonomische Bilanz.

Auf den ersten Blick war die Amtszeit der Kanzlerin erfolgreich. Sie brach den verhängnisvollen Trend einer um sich greifenden Arbeitslosigkeit, der in den Jahrzehnten seit Willy Brandt zu verzeichnen gewesen war. Als Merkel ihr Amt 2005 antrat, war Deutschland unter den OECD-Staaten Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten, die Zahl der Arbeitslosen lag mit knapp fünf Millionen auf einem Maximum. Heute liegt Deutschland im Normbereich und zählt nur noch etwas mehr als zwei Millionen Arbeitslose.

Der Erfolg resultiert indes aus den Reformen der Regierung von Gerhard Schröder mit seinem Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. Über eine Lohnspreizung nach unten, die durch Lohnzuschüsse im Hartz-IV-Tarif abgefedert wurde, hatte die damalige rot-grüne Regierung die Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten unmittelbar verringert. Mittelbar hat sie eine Periode der allgemeinen Lohnzurückhaltung eingeläutet, die die angeschlagene deutsche Wirtschaft wieder zu Kräften kommen ließ. Die nachfolgenden Regierungen haben die Erfolge Gerhard Schröders schlicht „konsumiert“.

Es ist anzuerkennen, dass in Angela Merkels erste Amtsperiode eine Senkung der Unternehmensteuern und die Rente mit 67 fielen, beides unerlässliche Maßnahmen zur Stärkung der Volkswirtschaft. Auch hat die Kanzlerin mit ihrem Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) die Finanzkrise im Herbst 2008 mit einem überzeugenden Schutzversprechen für die Sparer gut gemeistert. Ein Glanzstück ihrer Amtszeit war der von Steinbrück propagierte Beschluss vom Juni 2009, eine Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern.

Volkswirtschaftlich schädlich waren hingegen die Mehrwertsteuererhöhung und die verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Auch die vom Verfassungsgericht erzwungene Neuregelung der Erbschaftsteuer hat außer Komplikationen nichts gebracht. Der Erbgang gefährdet noch immer die Existenz von großen Unternehmen und macht sie zum Spielball von Private-Equity-Firmen, die mit Zerschlagungen schnelles Geld zu machen pflegen.

Die zweite Amtsperiode (2009–2013), diesmal mit den Liberalen als Koalitionspartner, fiel durch und durch enttäuschend aus. Die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels war nur ein kleiner, hässlicher Taschenspielertrick der FDP. Der Beschluss, bis 2021 aus der Kernenergie auszusteigen, stellt indes eine gravierende Fehlentscheidung dar, an der Deutschland dauerhaft leiden wird.

Besonders problematisch war der Bruch des Maastrichter Vertrages durch die kollektive Absicherung der Schulden Griechenlands 2010. Aus Sicht der Europäischen Zentralbank (EZB) war das Eis damit gebrochen, es folgte eine Mandatsdehnung nach der anderen. So lange sie lebe, werde es keine Eurobonds geben, sagte die Kanzlerin – während sie gleichzeitig der EZB freie Hand bei der Kollektivierung der Staatsschulden europäischer Krisenländer gab. Ermuntert durch die Schwäche der deutschen Politik setzt die EZB heute sogar dazu an, ihre Druckerpresse für eine grüne zentralplanerische Lenkung des Kapitalmarkts einzusetzen. So zerstört man die Marktwirtschaft.

In Merkels dritter Amtsperiode, nun wieder mit der SPD, setzte sich die Abkehr von der Marktwirtschaft fort. Die Regierung führte die Rente mit 63 und den gesetzlichen Mindestlohn ein. Zugleich ließ die Kanzlerin zu, dass die Bundesrepublik zeitweise die Landesgrenzen aufgab und rund 1,5 Millionen gering qualifizierte Migranten einreisen ließ, die im deutschen Wohlstandsstaat die bestmögliche Fluchtburg sahen. Zuletzt, in der vierten Amtsperiode, beseitigte man mit der Mindestrente das Äquivalenzprinzip der umlagefinanzierten Rentenversicherung. Im Umweltbereich kam es nicht zu einem für alle Länder einheitlichen CO2-Preis, sondern zu einem neo-dirigistischen Flickenteppich, der von einer Zwangsbeglückung mit E-Autos über die Abschaffung von Ölheizungen bis hin zu einer massiven Beeinträchtigung der Landwirtschaft reicht.

Die Kanzlerin war stets bestrebt, den Gegnern von Links den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie deren Politikwünsche antizipierte. Dadurch hat sie nicht nur rechts viel Platz für eine neue Partei geschaffen. Vor allem hat sie die linken Parteien gezwungen, noch weiter nach links auszuweichen und immer radikaler zu werden. Die CDU muss zur Besinnung kommen und wieder das werden, was sie einmal war: Eine Partei zum Schutz bürgerlicher Werte, die den Menschen klarmacht, dass nur die Leistungskraft der Marktwirtschaft sozialen Frieden und allgemeinen Wohlstand sichern kann. Sie sollte mit den anderen Parteien den offenen Streit um den besten marktwirtschaftlichen Kurs suchen, statt sich im Wettkampf um die großzügigsten Sozialleistungen zu verzetteln. Merkels Taktik der asymmetrischen Demobilisierung hat dem Wirtschaftsmotor eine gefährliche Unwucht beschert. Es ist an der Zeit, Taktik wieder durch Politik zu ersetzen. Es ist Zeit für einen Wechsel.