ifo Standpunkt Nr. 150: Jetzt hilft nur noch Durchwursteln

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 17. Oktober 2013

Niall Ferguson und ich stimmen überein, dass Südeuropas Massenarbeitslosigkeit kaum noch zu beherrschen ist und dass eine Deflation zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit kaum in Frage kommt, weil sie mit massenhaften Konkursen der überschuldeten Haushalte und Firmen einherginge, die ihren Schuldendienst nicht mehr leisten können. Auch bei der Feststellung, dass Deutschland unter dem Euro große Leistungsbilanzüberschüsse entwickelte, die das Spiegelbild der Defizite der Krisenländer waren, unterscheiden wir uns nicht.

Der Dissens besteht in der Interpretation der Leistungsbilanzsalden. Nach Ferguson hat der Euro Deutschland geholfen, weil er zu Lasten der Südländer Überschüsse in der deutschen Leistungsbilanz erzeugte.

Das stimmt nicht. Wie auch viele andere Nicht-Ökonomen verkennt Ferguson, dass Leistungsbilanzsalden schon definitorisch Kapitalflüsse messen und sie in der betrachteten Phase der Geschichte auch tatsächlich erklärten. Wenn Kapital von Land A nach Land B fließt, kommt A in die Flaute und B in den Boom. Im boomenden Land steigen die Importe, und die Exporte werden durch Lohnsteigerungen gedämpft. Im Flaute-Land ist es umgekehrt. Schon deshalb ist die Behauptung aus ökonomischer Sicht abwegig, ein Land würde von Leistungsbilanzüberschüssen profitieren und unter Defiziten der Leistungsbilanz leiden.

Die heutigen Krisenländer waren die Empfänger des Kapitals, das der Euro mobilisierte. Nach der Ankündigung des Euros schwand die Angst der Investoren vor Wechselkursrisiken, und sie verlangten niedrigere Zinsen. Das erzeugte einen Wirtschaftsboom, der zu einer inflationären Kreditblase entartete, die gewaltige Leistungsbilanzdefizite entstehen ließ. Die Blase platzte, als die amerikanische Krise nach Europa überschwappte und die Investoren sich weigerten, die Leistungsbilanzdefizite weiter zu finanzieren. Zurück blieben überteuerte, ihrer Wettbewerbsfähigkeit beraubte Volkswirtschaften in Südeuropa, die kurz vor dem Kollaps stehen.

Deutschland war unter dem Euro der große Kapitalexporteur und geriet dadurch in eine tiefe Wirtschaftsflaute. Nur ein Drittel der Ersparnisse wurde im Inland investiert, zwei Drittel gingen als Kapitalexport ins Ausland! Unser Land hatte lange Zeit die niedrigste Nettoinvestitionsquote und das niedrigste Wachstum in ganz Europa. Eine Massenarbeitslosigkeit zwang die Regierung Schröder im Jahr 2003 zu schmerzlichen Sozialreformen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag Deutschland bei der unwiderruflichen Ankündigung des Euros im Jahr 1995 auf dem zweiten Platz unter den jetzigen Euro-Ländern. Heute liegt es auf dem siebten Platz. Die Bilanz eines “Euro-Profiteurs” sieht anders aus.

Erst als die Kreditblase in Südeuropa platzte, ging es Deutschland wieder besser, weil es nun als sicherer Hafen für das Sparkapital galt. Das Vertrauen in die heimischen Immobilien erzeugte einen Bauboom. Dieser Boom wird, wenn das Kapital nicht künstlich durch öffentlichen Geleitschutz wieder aus Deutschland heraus gelenkt wird, die Leistungsbilanzsalden strukturell zum Ausgleich bringen.

Und auch hier unterscheiden wir uns. Was Ferguson vorschlägt, nämlich eine Institutionalisierung der Umverteilung zwischen den Ländern durch eine gemeinsame Einlagenversicherung, ein gemeinsames Eurozonen-Budget und Eurobonds, führt zu Missbrauchshandlungen, die zum Teil nicht einmal durch die Gründung eines gemeinsamen Bundesstaats eingedämmt werden könnten. Diese Maßnahmen sind kontraproduktiv, weil sie die strukturellen Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit, die durch die Kreditblasen in Südeuropa entstanden sind, auf ewig zementieren. Sie halten die falschen Löhne aufrecht, die der Produktivität nicht entsprechen, und machen aus der temporären Krise eine chronische Krankheit. Auch erzeugen sie künstlich zu viel Vertrauen in den Euro, was den Wechselkurs hoch hält und die Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer abermals unterminiert.

Jetzt hilft nur noch Durchwursteln. Deutschland muss etwas mehr Inflation akzeptieren, und die Südländer müssen auf Inflation verzichten, um so allmählich die falschen Preisrelationen wieder ins Lot zu bringen. Dieser Prozess, von dem in den Krisenländern außer Irland bislang leider noch nicht viel zu sehen ist, lässt sich nur einleiten, wenn die von den Märkten verhängte Austerität allenfalls maßvoll durch kollektive Kredithilfen gelindert wird. Der europäische Stabilitätsmechanismus ESM ist dafür bereits sehr großzügig ausgelegt.

Ländern, die trotz der Hilfen im Euroraum nicht zurechtkommen, sollte man einen geordneten temporären Austritt aus dem Euro mit einem Rückkehrrecht nach entsprechenden institutionellen Reformen erlauben. Da Europa keinen Bundesstaat mit einem Gewaltmonopol und einer demokratisch gewählten Regierung gegründet hat, kann der Euro nicht wie der Dollar funktionieren. Der Euro-Verbund sollte zu einem Währungssystem umgestaltet werden, dessen Flexibilität zwischen dem Bretton-Woods-System und dem Dollar liegt. Schon heute würde der Austritt nebst Abwertung die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes wie Griechenland sehr schnell wiederherstellen, und die Rückkehroption würde die Reformkräfte stärken. Zum Austritt gehört auf jeden Fall ein Schuldenschnitt, der die Schulden nach der Lex Monetae auch in die Landeswährung umstellt. Gemeinsame Schuldenschnitte für Krisenländer, die auf einer großen Schuldenkonferenz zu beschließen wären, könnten auch ohne den Austritt nötig werden.

Dass all dies Risiken für die Finanzmärkte birgt, liegt in der Natur der Sache. Die marktwidrige Sozialisierung der Schulden durch Eurobonds und Ähnliches birgt aber noch viel mehr Risiken. Das zeigt die amerikanische Geschichte. Nachdem die Schulden der Bundesstaaten 1791 unter dem Finanzminister Alexander Hamilton und beim zweiten Krieg gegen Großbritannien 1813 vergemeinschaftet wurden, war die Neigung der amerikanischen Staaten, sich immer mehr zu verschulden, nicht mehr zu bremsen. Es entwickelte sich eine gewaltige Kreditblase, die 1837 platzte und in den folgenden fünf Jahren über die Hälfte der amerikanischen Staaten in den Konkurs trieb. Wie Fergusons Historiker-Kollege Harold James aus Princeton zeigte, war nichts als Unfrieden und Streit durch die Schuldensozialisierung entstanden.

Die USA, aber auch die Schweiz, haben sich für das Beistandsverbot gegenüber überschuldeten Teilstaaten und Kantonen entschieden. Ohne dieses Prinzip müssten sie sehr viel zentralistischer sein und den Zentralstaat mit Durchgriffsrechten bis hin zum Staatskommissar ausstatten. Aber ein europäischer Bundesstaat, wenn er denn zu Stande käme, wird sicherlich nicht zentralistischer sein können als die USA oder die Schweiz. Selbst wenn er gegründet wird, lässt sich die Vergemeinschaftung der Schulden nicht vertreten.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel “Jetzt hilft nur noch Durchwursteln”, Focus, Nr. 30, 22. Juli 2013, S. 32/33; sowie verkürzt unter dem Titel “It is wrong to Portray Germany as the Euro Winner”, Financial Times, 23. Juli 2013, S. 9.