Europa steht sicherheitspolitisch allein da. Trump rüttelt am NATO-Schutzschild und Russland nutzt das aus. Hans-Werner Sinn über die Folgen für Europa. Ein Buchauszug.
Es ist nun eine fundamentale Zuversicht zerstoben, die Westeuropa über Generationen hinweg beruhigt und auch ihre Wirkungen auf Russland nicht verfehlt hatte. Die Konsequenzen sind gewaltig, denn ob man es will oder nicht: Nun muss sich Europa selbst um seine Verteidigung kümmern, und wenn es das nicht tut, steht womöglich Putin bald vor der Haustür der baltischen Staaten und versucht, die Reizschwelle der NATO auszutesten.
Die klare Trennung zwischen Krieg und Frieden ist durch die heute übliche hybride Kriegführung überholt. Auch ohne formelle Kriegserklärung finden Cyberattacken, Desinformationen, Manipulationsversuche von freien Wahlen sowie die Zerstörung von Kommunikationsinfrastruktur am Meeresboden bereits statt.
Für Russland sind Staatsgrenzen verrückbar
Der ehemalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat recht. Indem Trump den atomaren Schutzschirm der NATO infrage stellt, ermuntert er Putin voranzuschreiten, bevor sich Europa aufgerappelt und seine Verteidigung selbst organisiert hat. Insofern sollte man sich nicht wundern, wenn der lang ersehnte Frieden mit Russland vorläufig nicht zustande kommt, weil Russland wieder größere Chancen in der Fortführung des Krieges sieht.
Russland betrachtet im Gegensatz zu den europäischen Demokratien Staatsgrenzen nicht als völkerrechtlich unverletzlich und unverrückbar, sondern als „Front“ und Übergang zu imperialen Einflusssphären, in denen raumfremde Mächte wie die USA nichts zu suchen haben.
Die Stärke der NATO
Wie steht es nun um die Verteidigungsfähigkeit der europäischen NATO-Staaten? Können sie Russland allein in Schach halten? Das Bild ist gemischt. Nach dem offiziellen Jahresbericht der NATO aus dem Jahr 2024 haben die 30 europäischen NATO-Staaten, die es in- und außerhalb der EU gibt, eine beachtliche Truppenstärke von etwa zwei Millionen Mann.
Demgegenüber stehen in Russland nach Angaben des International Institute for Strategic Studies (IISS) derzeit nur etwa 1,1 Millionen unter Waffen. Russland will zwar nach einem Präsidialerlass aus dem Jahr 2024 eine Truppenstärke von 1,5 Millionen erreichen, so Reuters in einer Nachricht vom 16. September 2024. Doch ist auch das noch deutlich weniger, als die NATO hat.
Die NATO ist Russland weit überlegen
Im Übrigen wird die Truppenstärke der Ukraine mit einer Dreiviertelmillion Personen angegeben. Es bleibt deshalb dabei, dass der europäische Teil der NATO nebst der Ukraine Russland rechnerisch weit überlegen ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Verteidigungsausgaben. Die europäischen NATO-Staaten geben etwa doppelt so viel für Verteidigung aus als Russland.
Bei den Waffen selbst ergibt sich mit Ausnahmen eine ähnliche Tendenz. So verfügen nach Angaben der Internetplattform Global Fire Power 2025 die europäischen NATO-Länder über etwa 6800 Panzer, 3300 Artilleriegeschütze und eine Flugzeugflotte von etwa 9000 Stück. Russland hat demgegenüber knapp 6000 Panzer, etwa 5200 Artilleriegeschütze und 4300 Kampfflugzeuge.
Vorsicht vor Zahlen
Die Ukraine kommt auf etwa 1100 Panzer, 660 Artilleriegeschütze und 320 Kampfflugzeuge. Ob es nun die Panzer, die Artillerie, die Kampfflugzeuge oder auch Raketen oder Marschflugkörper sind, die über lange Distanzen ferngesteuert Ziele erreichen können: Überall zeigt sich ein gewisser, allerdings keineswegs riesiger Vorsprung der europäischen NATO-Länder in ihrer Gesamtheit, also ohne die hier stationierten US-Verbände.
Die genannten Zahlen sind aber mit Vorsicht zu interpretieren, denn es ist nicht klar, ob alles Gerät einsatzbereit ist und wie sich die wenig kriegserfahrenen Truppen der Alliierten gegenüber Russland schlagen würden. Außerdem ist zu bedenken, dass etwa 3600 von den gezählten Panzern in Griechenland und der Türkei stehen, die sich mit ihnen gegenseitig bedrohen.
Das sind die wichtigsten EU-Verteidigungspartner
Die wichtigsten Länder für die europäische Verteidigung sind erwartungsgemäß das Vereinigte Königreich, Frankreich, Deutschland, Polen und Italien. Das Vereinigte Königreich und Frankreich sind die einzigen Länder, die über Atomwaffen verfügen, mit einem Arsenal, das nicht im Entferntesten an Russland heranreicht, aber doch eine Abschreckungswirkung hat.
Allerdings hängt diese Wirkung davon ab, wie glaubhaft es ist, dass die Waffen eingesetzt werden, wenn die NATO sich in großer Bedrängnis befindet. Da Frankreichs Atomwaffen nicht der NATO unterstehen und die britischen, faktisch auch unter amerikanischer Kontrolle stehen, sind in diesem Punkt Zweifel angebracht.
Ob und wie die USA eingreifen würden, wenn es zum Ernstfall käme, ist nicht klar. Sie würden aber wohl mit konventionellen Waffen helfen, wenn die Europäer sie dafür bezahlen.
Deutschland: nur begrenzt verteidigungsfähig
Deutschlands Bundeswehr ist leider in einem desolaten Zustand. Über Jahre hinweg wurde die Bundeswehr in Deutschland von der Politik vernachlässigt, weil SPD, Grüne und eine unter Kanzlerin Merkel ergrünte CDU die Illusion hegten, dass man auch mit einer abgehalfterten Bundeswehr den Frieden sichern könne, u. a. auch, weil Russland ohnehin als friedliebend eingeschätzt wurde. Man hat es sich bequem gemacht und die Bequemlichkeit dann mit schönen Worten umrankt.
Am 14. August 2014, fünf Monate nach der Annexion der Krim, sagte die seit 2005 amtierende deutsche Bundeskanzlerin in einem Interview mit der Freien Presse, zitiert nach einem Bericht der CDU-Parteizentrale:
„Ich verstehe, dass viele Menschen Sorgen vor einer militärischen Konfrontation haben. Deshalb habe ich von vornherein ein militärisches Eingreifen ausgeschlossen und arbeite für eine diplomatische Lösung.“
Den Satz muss man dreimal lesen, um zu begreifen, was gemeint gewesen sein könnte. Meinte die Kanzlerin, sie könne Russlands Aggression verhindern, indem sie schon vorher ankündigt, dass sie sich nicht zur Wehr setzen würde? Meinte sie, sie habe diplomatische Gestaltungsmacht ohne eigene Wehrbereitschaft? Beides wären jedenfalls Aussagen, die bei weiterem Nachdenken eher bedrohlich als beruhigend wirken.
Merkels illusionärer Friedenstrip
Die Regierung Merkel hatte drei Jahre zuvor im Jahr 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt und damit faktisch abgeschafft. Nach dem Unglück von Fukushima hatte sie außerdem beschlossen, sämtliche Atomkraftwerke abzuschalten. Sie war auf dem illusionären Friedenstrip der Atomkraftgegner der 1960er Jahre, die sich später in der Umweltpartei der Grünen zusammengefunden hatten und auf dem „Marsch durch die Institutionen“ waren, wie Rudi Dutschke, der SDS-Studentenführer, es ihnen 1967 empfohlen hatte.
Die Kanzlerin war nicht selbst eine Grüne, sie passte sich nur an den Trend der Zeit an und wollte mit ihrer Politik der „asymmetrischen Demobilisierung“, wie sie es in internen CDU-Zirkeln nannte, den Grünen und den Linken innenpolitisch den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie deren Forderungen selbst umsetzte, um sie nicht zum Wahlkampfthema werden zu lassen. Von diesem Kurs, den sie sich vorgenommen hatte, wollte sie sich nicht durch die Annexion der Krim abbringen lassen. Es war also keine Rede davon, das Steuer herumzureißen und die Bundeswehr zu ertüchtigen.
Bis zum erneuten Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 vergingen acht Jahre. Diese Zeit hat Deutschland verstreichen lassen, ohne Maßnahmen zum Schutz seiner Bevölkerung zu ergreifen, obwohl längst eine imminente Gefahr sichtbar wurde.
Nachzulesen auf www.focus.de.
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