Weltwirtschaft in der Krise

Liegt der Fehler im kapitalistischen System – oder ist das System der Fehler?

ifo Institut für Wirtschaftsforschung, München, 2009, S. 1-16, vertont bei NDRInfo, Das Forum, 29.07.2009, ca. 29 Minuten.

Ein Essay von Hans-Werner Sinn

Sprecher:
Noch vor wenigen Jahren war die Magnetschwebebahn Transrapid Deutschland keine dreieinhalb Milliarden Euro wert. Für die Zukunftstechnik „Kernfusion“ wendet unser Land pro Jahr 180 Millionen Euro auf, und die 132 Exzellenzinitiativen zugunsten der Hochschulen kosten in fünf Jahren zusammen 1,9 Milliarden Euro.

Diese Beispiele verdeutlichen die staatliche Ausgabenbereitschaft bis zum Ausbruch der Finanzkrise Mitte 2008. Seither gelten scheinbar neue Dimensionen.

Auf schwindelerregende 580 Milliarden Euro belaufen sich die staatlichen Hilfen und Bürgschaften für die Banken.
Hinzu kommen 100 Milliarden Euro Bürgschaften für die Privatunternehmen und 81 Milliarden Euro für zwei Konjunkturprogramme.

Die Politik wirft mit den Milliarden nur so um sich, um einer Krise des Finanzsystems Herr zu werden, die die Welt so noch nicht erlebt hat. Wie konnte es zu dieser Krise kommen? Waren es persönliche Verfehlungen oder Gier, wie es in zahlreichen Zeitungsartikeln geschrieben wurde? Oder gibt es Systemfehler, die uns ins Schlamassel geführt haben und die man künftig vermeiden kann? Die letztere Frage ist aus Sicht eines Ökonomen die interessantere.

Sprecherin:
Natürlich hat es vor und in der Krise unverantwortliches, teilweise sogar kriminelles Verhalten gegeben. Das eigentliche Problem liegt aber nicht in der fehlenden Moral der Akteure, sondern in den falschen Anreizen, die wesentlich durch die institutionellen Spielregeln erklärt werden. Diese Spielregeln – Gesetze und Verordnungen – muss man untersuchen, wenn man die Systemfehler ausfindig machen und Empfehlungen für die Zukunft entwickeln möchte.

Sprecher:
Dabei geht es nicht um die Systemfrage an sich, wie manche meinen. Man sollte sich hüten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Finanzkrise ist keine Krise des Kapitalismus, sondern eine Krise des angelsächsischen Finanzsystems, das zum Kasino-Kapitalismus mutiert ist und leider auch in Europa immer mehr Nachahmer gefunden hat.

Sprecherin:
Im Herbst 2008 stand das globale Finanzsystem am Rande des totalen Zusammenbruchs. In der Börsenwoche bis zum 10. Oktober waren die Kurse weltweit in einem Ausmaß eingebrochen, wie es Generationen nicht erlebt hatten: minus 18,2 Prozent. Einen so starken Kurseinbruch in nur einer Woche hatte es selbst in der Weltwirtschaftskrise 1929 nicht gegeben. Am Montag, dem 13. Oktober 2008, wäre es zur Kernschmelze des Weltfinanzsystems gekommen, wenn die Politik nicht über das Wochenende reagiert hätte. Die Regierungen der G7-Länder hatten am Samstag zuvor  in Washington Leitlinien für eine Rettungsstrategie entwickelt, die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten einigten sich zusätzlich am nächsten Tag in Paris auf ein gemeinsames Vorgehen. Ohne diese Schritte wäre es zu einem Bank Run, einem Ansturm auf die Konten, gekommen, der die Banken binnen weniger Tage, wenn nicht Stunden, zahlungsunfähig gemacht hätte.

Sprecher:
Diese Beschreibung ist nicht übertrieben. Der Ansturm auf die Banken hatte tatsächlich schon begonnen, wie die hoben Bargeldabhebungen und Goldkäufe dieser Zeit zeigen.

Am 10. Oktober und dem folgenden Montag musste beispielsweise eine große deutsche Bank pro Tag genauso viele Transporte zur Bargeldversorgung der Zweigstellen fahren wie sonst in zwei Monaten. In Österreich war der Ansturm der osteuropäischen Kunden sogar so stark, dass einige Zweigstellen vorübergehend geschlossen wurden.

Sprecherin:
Auch der Absturz der Realwirtschaft war atemberaubend und ohne Beispiel. Bis ins Jahr 2007 boomte die Weltwirtschaft vier Jahre lang mit Wachstumsraten von etwa 5   Prozent. Im Jahr 2008 dürfte das weltweite Wachstum nur noch gut 3 Prozent betragen haben. Für 2009 erwartet der Internationale Währungsfonds nun eine negative Wachstumsrate von -1,8 Prozent. Das ist der bei weitem niedrigste Wert in der Nachkriegszeit. In Deutschland war schon im ersten Halbjahr 2008 der ifo- Geschäftsklimaindex dramatisch schnell zurückgegangen, später folgten die vom Statistischen Bundesamt ermittelten Wachstumsraten.

Sprecher:
Seit Herbst 2008 steckt unser Land offiziell in der Rezession. Das heißt , dass wir abgestiegen sind, nicht dass es schon wieder aufwärts geht. Einbrüche beim Sozialprodukt, bei der Industrieproduktion und beim Export haben die Dimensionen dessen gesprengt, was man in der Nachkriegszeit hat beobachten können. Selbst im Jahr 1993, nach dem Ende des Vereinigungsbooms, waren die prozentualen Rückgänge nicht einmal halb so groß. Dank der Kurzarbeitergelder ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit bislang allerdings noch sehr verhalten. Vermutlich werden wir uns im kommenden Winter und im Verlauf des Jahres 2010 auf stärkere Einbrüche gefasst machen müssen. Auch wenn die Wirtschaft dann schon wieder ein bisschen wächst, wird diese Entwicklung kaum zu verhindern sein. Erst dann wird die Krise bei den Arbeitnehmern wirklich ankommen.

Sprecherin:
Deutschland wird von dieser Krise sogar in besonderem Maß betroffen – stärker als viele andere Länder. Das liegt an unserer Position als Waren-Exportweltmeister mit hoher Spezialisierung auf die Produktion von Investitionsgütern – Maschinen, Ausrüstungen und Produktionsanlagen jeglicher Art. Investitionsgüter sind so genannte Cycle Makers, sie erzeugen die Konjunktur-Zyklen, weil die Nachfrage nach diesen Gütern höheren Ausschlägen unterworfen ist als die Nachfrage nach Konsumgütern.
Verbessern sich die Absatzerwartungen, schießen die Investitionen in die Höhe, verschlechtern sich die Erwartungen, fallen sie ins Bodenlose. So wie Deutschland vom vergangenen Boom der Weltwirtschaft sehr stark profitiert hat, leidet es nun besonders unter der Flaute. Das Land schwimmt wie ein Korken auf den Wogen der Weltwirtschaft, und es wird vom Auf und Ab der Wellen heftig geschüttelt.

Sprecher:
Doch zunächst zum Ausgangspunkt der Krise und damit nach Amerika. Die Amerikaner haben jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt. Das zeigt ein Blick auf die Entwicklung  der Sparquote der amerikanischen Haushalte. Die Sparquote gibt an, welcher Anteil der verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte nicht konsumiert wird. In den USA lag die Sparquote bis zum Beginn der achtziger Jahre zwischen 7 und 11 Prozent, danach  ist sie trendmäßig etwa ein Vierteljahrhundert lang gefallen,  und schließlich lag sie in den Jahren 2005 bis 2007 praktisch bei Null. Zum Vergleich: Die Sparquote der deutschen Haushalte lag in den Jahren 2005 bis 2008 bei durchschnittlich 10,9 Prozent. Die Amerikaner haben sich in dieser Zeit offenbar ein schönes Leben gemacht und die Zukunftsvorsorge vernachlässigt. Viele haben sogar ihren Konsum zum Teil mit Krediten finanziert.

Sprecherin:
Wenn die Privathaushalte nicht mehr sparen, der Staat aber laufend neue Schulden macht und auch die Firmen einen Teil ihrer Investitionen mit Fremdkapital finanzieren wollen, gibt es nur eine Möglichkeit, die Finanzierung sicherzustellen: durch Kapitalimporte aus dem Ausland. Die Amerikaner haben diese Möglichkeit in riesengroßem Umfang genutzt. Im Wesentlichen bezahlen die Amerikaner den Überschuss der Importe über die Exporte mit Schuldverschreibungen. Allein im Jahr 2008 lag der amerikanische Nettokapitalimport bei 790 Milliarden US-Dollar. Finanziert wurde der Kapitalimport der USA von jenen Ländern, die dank ihrer Exportüberschüsse Nettokapitalexporteure waren. China, Deutschland und Japan sind in dieser Reihenfolge die drei großen Finanziers des Weltkapitalmarktes.

Sprecher:
Weil die Amerikaner aufgehört hatten zu sparen, musste das Land mit der Zeit immer mehr Papiere auf den Markt werfen. Doch ab Mitte des Jahres 2007 wuchsen die Zweifel an der Bonität der Ansprüche, die in diesen Papieren verbrieft waren.
Insbesondere die so genannten Collateralized Debt Obligations, kurz CDOs, erlebten seither einen dramatischen Wertverfall. Die CDO-Papiere sind die in der Presse vielfach diskutierten immobilienbesicherten Wertpapiere, deren Eigentümer in der letzten Zeit besonders viel Geld verloren haben. Es handelt sich dabei um verbriefte Ansprüche gegen amerikanische Immobilieneigentümer, die über viele Stufen zwischen Banken gehandelt wurden.

Auf dem US-Immobilienmarkt hatte sich jedoch seit Mitte der 90er Jahre eine gewaltige Blase aufgebaut. Die Preissteigerungsrate in der Zehnjahresspanne von 1996 bis 2006 lag bei 190 Prozent, was einem jährlichen Durchschnitt von 11,2 Prozent entspricht. Die Aufblähung dieser Blase war eine wesentliche Triebkraft des amerikanischen Konsums. Die Amerikaner vernachlässigten die Ersparnis, weil sie sich wegen des stetigen  Anstiegs ihrer Häuserpreise wohlhabend und für das Alter abgesichert wähnten.

Sprecherin:
Aber Blasen platzen irgendwann. Die amerikanische Blase tat dies Mitte des Jahres 2006. Zu dem Zeitpunkt hatte die Preiskurve ihr Maximum erreicht. Seitdem fallen die Preise nur noch. Bis heute ist noch keine Verlangsamung des Preisverfalls oder gar eine Bodenbildung zu beobachten. Allein in den zweieinhalb Jahren vom Höchststand der Immobilienpreise im Juni 2006 bis zum April 2009 betrug der Preisrückgang 34
Prozent. Das entspricht einem Wertverlust bei den amerikanischen Wohnimmobilien in Höhe von mehr als 7 Billionen Dollar.

Sprecher:
Die unmittelbare Konsequenz des Platzens der Blase war, dass viele Hausbesitzer in  die Überschuldung gerieten und somit die ordnungsgemäße Bedienung der Hypotheken und der darauf basierenden CDO-Papiere immer unwahrscheinlicher wurde. Dies steckt letztlich hinter dem dramatischen  Preisverfall dieser Wertpapiere. Unter den gigantischen Kreditausfällen hatten zwar in erster Linie amerikanische Finanzinstitute zu leiden, doch haben diese das Problem mit den CDO-Papieren in die ganze Welt exportiert.

Sprecherin:
So gelangten die mehr oder weniger wertlosen Papiere in die Bilanzen der Banken. Mit dramatischen Folgen: Das Jahr 2008 wird als das Jahr des großen Bankensterbens in die Geschichte eingehen. Denn nicht weniger als 83 Banken sind in diesem Jahr weltweit durch Konkurse und Übernahmen vom Erdboden verschwunden oder in letzter Minute verstaatlicht worden, darunter die großen amerikanischen Investmentbanken Bear Stearns, Lehman Brothers und Merrill Lynch sowie die Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac. Auch deutsche Landesbanken, die Industriekreditbank IKB und die Hypo Real Estate gerieten in massive Schwierigkeiten. Das Kreditgeschäft zwischen den Banken, der so genannte Interbankenhandel, kam zwischenzeitlich zum Erliegen.

Sprecher:
Dabei sind noch längst nicht alle Belastungen der Banken auf dem Tisch. Der Internationale Währungsfonds hat im April 2009 prognostiziert, dass die Banken der USA, der Euroländer, Großbritanniens und Japans etwas mehr als 4 Billionen Dollar verloren haben und im Laufe der nächsten Jahre auch formell werden abschreiben müssen. Tatsächlich hatten die Banken der Welt laut Bloomberg bis Februar 2009 aber nur 1,2 Billionen Dollar Abschreibungen in ihren Bilanzen ausgewiesen. Die Abschreibungsverluste könnten also noch auf das Vierfache der Februar-Werte steigen. Auch heute sind vermutlich noch etwa zwei Drittel der krisenbedingten Wertverluste  noch nicht in den Bankbilanzen ausgewiesen.

Sprecherin:
Wenn man diesen Durchschnittswert auf einzelne Staaten überträgt, ergibt sich ein erschreckendes Bild: Die Banken in den USA und in der Schweiz hatten bis Februar bereits die Hälfte ihres Eigenkapitals durch Abschreibungen verloren, Deutschland immerhin gut 20 Prozent. Geht man nun davon aus, dass der tatsächliche Verlust viermal so groß war, heißt das für die USA und die Schweiz: Viermal das halbe Eigenkapitals verloren – oder mit anderen Worten: zweimal pleite. Die deutschen Banken hätten etwa 80 Prozent ihres Eigenkapitals verloren. Natürlich wird es zu diesen Pleiten nicht kommen, weil die Staaten - wie schon erwähnt - am 11. und 12. Oktober 2008 vereinbart haben, systemrelevante Banken zu retten. Die Zahlen zeigen aber, wie groß die Lasten bei diesen Rettungsaktionen sein werden.

Sprecher:
Wenn das weltweite Bankensystem in eine so existenzielle Krise gerät, muss etwas grundlegend falsch gelaufen sein. Aber was war es genau, das die Finanzwelt an den Rand des Abgrundes trieb? War es ein blind machender Spieltrieb, der die Banken ins Verderben getrieben hat? Oder steckt etwas anderes dahinter?

Sprecherin:
Banken sind typischerweise Kapitalgesellschaften, bei denen die Haftung der Gesellschafter – sprich der Aktionäre – auf das eingesetzte Eigenkapital beschränkt ist. Das übrige Vermögen der Aktionäre ist vor dem Zugriff geschützt. Grundsätzlich ist die Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung das zentrale Erfolgsmodell des Kapitalismus. Erst sie hat die gewaltige Ansammlung von Kapitalien ermöglicht, die die Voraussetzung der Industrialisierung und des wirtschaftlichen Wohlstands der westlichen Welt war und weiterhin ist.

Sprecher:
Das Privileg der Haftungsbeschränkung wurde jedoch von den Banken so gedehnt, dass sie am Ende fast gar nicht mehr hafteten, weil viele nur noch mit minimalen Eigenkapitalbeständen von 3 bis 5 Prozent der Bilanzsumme arbeiteten. Das ist angesichts der recht riskanten Bankgeschäfte sehr wenig. Es bedeutet, dass man sein Geschäftsvolumen durch Aufnahme von Fremdkapital auf das 20- bis 33-fache dessen ausdehnen kann, was einem möglich wäre, würde man nur sein Eigenkapital verleihen. Diese enorme Hebelwirkung sichert zwar hohe Eigenkapitalrenditen, sie erzeugt aber auch enorm hohe Risiken, zunächst für die Bank selbst, dann für ihre Gläubiger und am Ende für die Steuerzahler, die letztlich für die Rettungspakete aufkommen müssen.

Sprecherin:
Der Grund dafür, dass die Eigenkapitalquoten so niedrig waren, lag nicht in der Armut der Aktionäre, sondern in ihrem Bestreben, so viel Geld wie möglich als Dividenden ausgeschüttet zu bekommen, um es in
Sicherheit bringen zu können. Es galt, möglichst wenig Kapital in der Bank zu lassen, denn was immer dort verblieb, konnte in turbulenten Zeiten verloren gehen.

Sprecher:
Schlimmer noch war, dass der geringe Eigenkapitalbestand in Verbindung mit der Haftungsbeschränkung die Aktionäre veranlasste, von ihren Vorständen immer riskantere Geschäftsmodelle zu fordern, um dadurch mehr Gewinn zu machen. Natürlich hat niemand Interesse an Verlusten. Wenn es aber die Möglichkeit gibt, in guten Zeiten höhere Gewinne einzufahren um den Preis, in schlechten Verluste zu haben, die man mangels Haftungskapital nur zu einem geringen Teil tragen muss, dann gewinnt  das Risiko an Attraktivität. Wird ein Teil der Verluste von den Gläubigern oder vom Staat getragen, lohnt es sich, ins Risiko zu gehen.

Sprecherin:
Es kann nicht genug betont werden, dass es bei der Erklärung dieses Glücksrittertums der Banken nicht primär um Fehlanreize für die Bankvorstände geht, sondern um Fehlanreize für die Aktionäre. Schließlich sind sie es, die von der   Haftungsbeschränkung profitieren. Sie verlangen von ihren Banken risiko- und ertragreiche Geschäftsmodelle, die nur deshalb funktionieren, weil Verlustrisiken, die  das Eigenkapital übersteigen, sozialisiert werden. Deshalb verpflichten sie den Vorstand auf hochgesteckte Renditeziele und gestalten die Entlohnungssysteme für die Manager so, dass diese einen Anreiz haben, sich entsprechend risikofreudig zu verhalten. Wenn der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank ein Renditeziel von 25 Prozent verkündet, so deshalb, weil ihm die institutionellen Investoren – Pensionskassen und Investmenthäuser – im Nacken sitzen, die 86 Prozent seiner Aktien besitzen.

Sprecher:
Doch nicht nur die Banken war dem Glücksrittertum verfallen, sondern auch viele Häuslebauer in den USA.
Der Durchschnittsamerikaner mit seinem Häuschen, nennen wir ihn Mr. Jones, kam nämlich ebenfalls in den Genuss einer Haftungsbeschränkung, die ihn zum Zocken veranlasste. Wenn in Deutschland jemand einen Kredit für einen Hauskauf aufgenommen hat und zahlungsunfähig wird, muss er damit rechnen, dass die Bank  sein Haus versteigert, um sich aus dem Verkaufserlös zu bedienen. Und wenn der Erlös nicht reicht, greift die Bank auf sonstiges Vermögen und auch auf das künftige Arbeitseinkommen des Hauseigentümers zurück. Deswegen ist man in Deutschland beim Häuserkauf vorsichtig und kann erst dann wieder ruhig schlafen, wenn die Schulden abbezahlt sind.

Sprecherin:
Nicht so in Amerika. Da ist man der Dumme, wenn man keine Schulden hat. In den USA gibt es im Normalfall keine Durchgriffshaftung gegen das restliche Vermögen oder das Arbeitseinkommen der Hauseigentümer. In aller Regel werden Hauskredite dort als sogenannte nonrecourse loans vergeben, was wörtlich übersetzt »regressfreie Kredite« heißt. Dieser Schutz vor Haftung veranlasste Mr. Jones, beim Hauskauf das Risiko zu suchen und sich zu übernehmen.

Sprecher:
Die Erklärung ist einfach: Im Fall, dass die Hauspreise steigen, ist Mr. Jones fein raus.  Er kann das Haus nach ein paar Jahren wieder verkaufen, seinen Kredit zurückzahlen und einen Gewinn in Höhe des Wertzuwachses erzielen. Oder er kann noch mehr Kredit aufnehmen.  Im anderen Fall, wenn die Preise fallen, hat Mr. Jones zwar Pech, aber   kein Problem. Er muss nur den Schlüssel seines Hauses bei der Bank abgeben und in einem Brief den Verzicht auf sein Eigentum und die Nichtbedienung des Kredits  erklären. Banken nannten diese Briefe übrigens Jingle Mail, Klingel-Post, weil der ausgebeulte Briefumschlag verdächtig klang, wenn man ihn schüttelte. Ansonsten hat  Mr. Jones mit der Sache nichts weiter zu tun. Er mietet ein anderes Haus und lebt weiter so wie vorher auch. Diese geradezu abenteuerlichen Anreizstrukturen führten zu hemmungslosen Kaufentscheidungen der amerikanischen Privathaushalte. Sie sind der mikroökonomische Kern der amerikanischen Immobilienblase.

Sprecherin:
Warum aber haben die Banken dieses für sie so ungünstige Spiel überhaupt mitgemacht? Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: das geringe Eigenkapital der Banken. Wer nur mit einem minimalen Eigenkapitalanteil haftet und drohende Verluste hauptsächlich anderen anlasten kann, entwickelt sich zum Glücksritter, der ein immer höheres Risiko sucht. Die Banken wetteten zusammen mit den Hausbesitzern auf höhere Immobilienpreise, weil sie wussten, dass sie bei einer Fortsetzung des Immobilienbooms viel zu gewinnen, doch  beim Zusammenbruch des Marktes nicht mehr zu verlieren hatten als das bisschen Eigenkapital, über das sie verfügten.

Sprecher:
Der zweite Grund war schlicht, dass die Banken Kredite vergeben mussten. Dazu   zwang sie ein spezielles Bundesgesetz: der Community Reinvestment Act, was etwa mit »kommunales Wiederaufbauprogramm« zu übersetzen ist. Das Programm wurde 1977 eingeführt, um der Verwahrlosung von Wohnbezirken und der Bildung von Slums entgegenzuwirken. Das Gesetz gewann 1995 durch eine Novelle unter Präsident Bill Clinton erheblich an Schlagkraft. Es setzte die Banken unter Druck, auch Kunden mit geringer Bonität Kredite zu geben. So kam es, dass sich selbst Geringverdiener und Arbeitslose, die über keinerlei Eigenkapital und Einkommen zur Bedienung der Kredite verfügten, Häuser kaufen konnten. Diese Kredite, mit denen sie das schafften, nannte man NINJA-Kredite, als Abkürzung von No Income, No Jobs or Assets, also: kein Einkommen, keine Jobs oder Vermögenswerte.

Sprecherin:
Die Hypothekenbanken, die aufgrund des Community Reinvestment Act gezwungen waren, die Subprime-Kredite zu vergeben, wussten natürlich, wie problematisch diese waren, und sannen auf Abhilfe. Die Lösung bestand in der Verbriefung der Kreditansprüche. Statt die Kreditansprüche gegen die Häuslebauer selbst zu halten und geduldig auf die unsichere Rückzahlung zu warten, verkauften sie die Kreditansprüche  an andere Banken oder Finanzinvestoren am Kapitalmarkt. Sie schufen dafür festverzinsliche immobilienbesicherte Wertpapiere, die einen Anspruch auf die Zins- und Tilgungsleistungen der Hausbesitzer begründeten – die sogenannten Mortgage Backed Securities oder MBS-Papiere. Die Banken, die diese Papiere kauften, wurden mit erheblichen Preisabschlägen und folglich hohen Effektivrenditen gelockt, die im günstigsten Fall zu erzielen sein würden. Doch natürlich hatten auch diese Banken   kaum Illusionen über die Bonität der Papiere. Deshalb beeilten auch sie sich, diese möglichst schnell weiterzureichen. Die Ansprüche gegen die Häuslebauer hatten den Charakter von heißen Kartoffeln, die niemand lange in der Hand halten wollte, um sich nicht zu verbrennen.

Sprecher:
Um die Ansprüche weiterreichen zu können, verbrieften die Banken die Papiere noch einmal und schufen die schon erwähnten CDO-Papiere. Das waren nach dem Wasserfallprinzip strukturierte Papiere unterschiedlicher Bonität, die Ansprüche gegen die Kreditrückzahlungen der Immobilienbesitzer begründeten. Das war aber noch nicht alles. Denn die CDO-Papiere wurden von anderen Banken gekauft und dann erneut verbrieft und weiterverkauft. Sechs Verbriefungsstufen waren üblich. Auf jeder Stufe versuchten die Banker aus dem immer gehaltloser werdenden Brei von Ansprüchen noch ein paar Papiere mit erstklassigem Triple-A-Rating für den nächsten Abnehmer herauszuquetschen. Einige Papiere hatten sogar mehr als 20 Verbriefungsstufen hinter sich, ja es wird von Papieren mit 40 und mehr Stufen berichtet. Es entstand eine Kaskade von ineinander verschachtelten Ansprüchen, die häufig nicht einmal der cleverste Investmentbanker durchschaute.

Sprecherin:
Der Markt für diese verschachtelten CDO-Papiere erreichte Anfang 2007 sein größtes Volumen. Allein im zweiten Quartal lagen die Emissionen bei über 160 Milliarden US- Dollar. Dann nahmen die Rating-Agenturen ihre Bewertungen radikal zurück – teilweise um drei Stufen. Das Volumen der Neuemissionen ging daraufhin schlagartig zurück. Inzwischen ist der Markt vollständig zusammen gebrochen.

Sprecher:
Trotz dieser Warnung kann man nur von einem Versagen der großen Rating-Agenturen sprechen. Die Rating-Agenturen haben die verbrieften Wertpapiere untersucht und hätten Licht in das Dunkel der wirtschaftlichen Verflechtungen bringen können.
Stattdessen haben sie mit viel zu guten Bewertungen dazu beigetragen, dass die zweifelhaften Papiere in der ganzen Welt ihre Käufer fanden. Und auch Mitte 2007 kam ihre Warnung zu spät. Zu dem Zeitpunkt waren die Hauspreise bereits ein Jahr am Fallen.

Sprecherin:
Wenn schon die Rating-Agenturen nicht vor den toxischen Wertpapieren gewarnt  haben, muss man sich fragen, warum nicht wenigstens die Aufsichtsbehörden der Länder auf die Gefahr hingewiesen haben. Erhellend ist die Aussage eines hochrangigen Vertreters der Banque de France bei einer Konferenz in Paris im Oktober 2008. Gefragt, wie sein Haus über die Zulassung von Finanzprodukten entscheidet, sagte der Zentralbanker – Zitat:

Zitator:
»Wir hatten uns eigentlich vorgenommen, ein Finanzprodukt nur dann zu genehmigen, wenn es wenigstens einer von uns wirklich verstand. Diesen Grundsatz konnten wir aber nicht durchhalten, denn wir mussten stets befürchten, dass es dann von den Briten oder den Deutschen genehmigt werden würde. Also haben wir die Augen zugedrückt und die Genehmigung erteilt«.

Sprecherin:
Dieses Zitat drückt die Tragik der Bankenaufsicht auf sehr dramatische Weise aus. Man wollte bei der Regulierung nicht strikter sein als andere Länder, weil man befürchtete, dass das Bankgeschäft dann dort gemacht würde. Diese Stellungnahme ist kein Einzelfall, sondern beschreibt ein fundamentales Problem, wenn staatliche Aufsichtsbehörden miteinander im Standortwettbewerb stehen. Stets gibt es für die Aufsichtsbehörde eines Landes den Anreiz, die eigenen Banken etwas großzügiger zu regulieren als in den Nachbarstaaten, um den eigenen Finanzplatz zu stärken. Da aber ein solcher Anreiz für die Aufsichtsbehörden aller Länder besteht, unterbieten sich die Behörden gegenseitig, und die Regulierung sinkt auf ein Mindestniveau. Der Wettbewerb der Staaten oder Regulierungsbehörden degeneriert zu einem Laschheitswettbewerb.

Sprecher:
Doch haben sich die Staaten wenigstens in der Krise bewährt? Wie schon erwähnt, haben die Länder der Welt im Oktober 2008 umfassende Rettungspakete für das Bankensystem geschnürt. Der G7-Gipfel in Washington am 11. Oktober und die EU- Konferenz in Paris am Tag darauf stellten die Weichen für eine Rettungsaktion zugunsten der Banken, wie sie die Welt bis dahin nicht gesehen hatte. Inzwischen wurden die damals genannten Beträge sogar noch aufgestockt. Für alle Länder summieren sich die Garantien und Hilfsmittelzusagen jetzt auf 4,1 Billionen Euro. Nicht enthalten sind die Konjunkturprogramme der Länder. Die Summe ist geradezu astronomisch. Sie übertrifft alles, was man sich noch vor kurzem hätte vorstellen können. Man muss aber beachten, dass es sich nur zu einem kleinen Teil um echte Ausgaben der Länder handelt. Der Löwenanteil entfällt auf staatliche Bürgschaften und Kredite, die nur bei Ausfällen die Haushalte belasten.

Sprecherin:
Deutschland hat insgesamt 578 Milliarden Euro zur Rettung seines Bankensystems zur Verfügung gestellt. Damit ist das deutsche Rettungspaket ausreichend dimensioniert, um die möglichen Verluste des Bankensystems auszugleichen. Trotzdem ist es ungeeignet, die dringend notwendige Rekapitalisierung
des deutschen Bankensystems zu bewerkstelligen. Der Grund ist einfach: Der größte Teil der Mittel steht als Bürgschaften zur Verfügung. Bürgschaften helfen jedoch nicht, Eigenkapitalverluste auszugleichen. Die angeboten Eigenkapitalhilfen aber werden im Gegensatz zu den Bürgschaften nur sehr zögerlich in Anspruch genommen. Von 100 Milliarden Euro, die der Staat bereitgestellt hat, wurden bislang gerade einmal 19 Milliarden abgerufen – hauptsächlich von der Commerzbank. Wenn der Verlust des gesamten Eigenkapitals der Banken in Höhe von 300 Milliarden Euro droht, stellen die 19 Milliarden die falsche Größenordnung dar.

Sprecher:
Der Grund für die Ablehnung des staatlichen Eigenkapitals liegt darin, dass dessen Annahme mit Strafen verbunden ist. Zum einen bedeutet die Annahme des Geldes nämlich, dass sich die Vertreter der Behörden in den Aufsichtsräten niederlassen und dort mitreden. Zum anderen bedeutet sie, dass die Managergehälter gekappt werden. Vorstände von Banken, die die Staatshilfen in Anspruch nehmen, müssen eine Beschränkung ihrer Gehälter auf jährlich 500 000 Euro akzeptieren. Für Bankvorstände, die in Deutschland im Durchschnitt 2,2 Millionen Euro pro Jahr verdienen, ist das ein empfindlicher Einschnitt.

Sprecherin:
Die verständliche Devise in allen Bankvorständen lautet deshalb: »Runter mit dem Geschäftsvolumen!«.
Die Banker ziehen es vor, ihre Bilanzen wieder in Ordnung zu bringen, indem sie ihr Aktivgeschäft reduzieren. Das heißt: weniger Kredite an die Firmen vergeben.

Sprecher:
Das Problem ist nicht zu unterschätzen: Bei einer Eigenkapitalquote von 4 Prozent, wie sie die deutschen Banken noch im Jahr 2007 hatten, bedeutet ein Prozent Verlust auf die Anlagen die Vernichtung von einem Viertel des Eigenkapitals. Um die Eigenkapitalquote zu halten, muss die Bank entsprechend ein Viertel ihres Geschäftsvolumens abbauen, also 25 Prozent der Ausleihungen. Das ist das 25-fache des verlorenen Eigenkapitals. Dieser gewaltige Bilanzmultiplikator kann der deutschen Wirtschaft zum Verhängnis werden. Kommt der Kreditfluss ins Stocken, fehlt das Geld für Investitionen. Darunter leiden unmittelbar Maschinenbau, Softwareherstellung, Werftindustrie und andere Hersteller von Investitionsgütern. Im zweiten Schritt fehlt es dann in der gesamten Wirtschaft an Produktionskapazitäten für ein neuerliches Wachstum.

Sprecherin:
Verantwortungsbewusste Politik kann das nicht zulassen. Sie muss verhindern, dass  sich die Banken gesundschrumpfen, indem sie Kredite verweigern und so der Wirtschaft die Luft abdrehen. Der Staat muss also das fehlende Eigenkapital bereitstellen – aber nicht als Geschenk. Staatliche Geschenke würden das alte, riskante Geschäftsmodell noch nachträglich bestätigen und geradezu zu einer Fortsetzung einladen. Denn jeder Banker wüsste: wenn etwas schief geht, hilft ja der Staat.

Sprecher:
Vernünftiger ist der folgende Vorschlag: Banken, die am Markt nicht genug Eigenkapital finden, um das Bilanzvolumen der letzten drei Jahre mit mindestens vier Prozent Eigenkapital zu unterlegen, müssen akzeptieren, dass der Staat das Eigenkapital auffüllt und  Teilhaber wird. Die Altaktionäre müssen den Staat als Mitgesellschafter  akzeptieren. Der Staat erhält für seine Hilfe Aktien zu einem fairen Preis.

Sprecherin:
Natürlich dürfen die Banken keine Behörden werden. Der Staat hat zwar Geld, ist aber ein schlechter Banker. Die private Rechtsform muss deshalb unbedingt erhalten bleiben. Sie schützt die privaten Minderheitseigentümer und die Volkswirtschaft davor, dass der Staat seine Machtposition missbraucht. Die private Rechtsform ist auch deshalb erforderlich, weil der Staat seinen Aktienbesitz nicht auf Dauer halten soll. Sobald die Krise vorbei ist, soll er seine Anteile wieder verkaufen – gerne auch mit Gewinn..

Sprecher:
Für die Zeit nach der Krise sind noch zusätzliche Schritte notwendig. So ist es von entscheidender Bedeutung, die Ordnungs- oder Regulierungsregeln des Bankensystems international zu harmonisieren, um dem Laschheitswettbewerb einen Riegel vorzuschieben. Zu dem Zweck müssen die Staaten der Welt sich zu einem Basel-III-Abkommen zusammenfinden, das Mindeststandards für die Qualität der Bankprodukte festlegt. Mit dem G-20-Gipfel von London im April 2009 ist ein Anfang für eine solche Harmonisierung der Bankenregulierung gemacht worden.

Sprecherin:
Insbesondere müssen die Regulierer langfristig wesentlich höhere Eigenkapitalquoten verlangen als heute. Das ist die Schlüsselstrategie für die Gesundung des Bankwesens. Ein hoher Eigenkapitalbestand puffert Stöße besser ab. Vor allem schafft er mehr Sorgfalt im Umgang mit dem Risiko, weil er die Haftung der Aktionäre verstärkt. Die Vertreter der Banken werden diese Vorschläge nicht mögen, denn sie laufen darauf hinaus, dass die Eigenkapitalrendite sinkt. Dem Geschäftsmodell der Banken, aus bloßem Risiko Erträge zu generieren, weil die negativen Teile der Gewinnverteilung größtenteils anderen aufgebürdet werden, wird der Boden entzogen.

Sprecher:
Aber gerade deshalb: Wenn eine Lehre aus dieser Krise gezogen werden kann, dann die, dass diesem Geschäftsmodell der Boden entzogen werden muss!

Publikation dazu:
Kasino-Kapitalismus: Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, Econ Verlag: Berlin 2009, 352 S., bislang drei Auflagen.