China hat seine Kohlekraft massiv ausgebaut und dennoch die CO2-Emissionen reduziert. Kann Deutschland daraus lernen?
China hat im ersten Halbjahr 2025 so viel Kohlekraft neu ans Netz genommen wie seit neun Jahren nicht mehr. Daten des Zentrums für Forschung zu Energie und sauberer Luft (Crea) zufolge schloss die Volksrepublik zwischen Januar und und Juni neue Kohlekraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 21 Gigawatt ans Netz – der höchste Wert für ein erstes Halbjahr seit 2016. Für das gesamte Jahr 2025 werden mehr als 80 GW prognostiziert.
Laut der Crea-Analystin Christine Shearer zeigt die Entwicklung der Kohlekraft in China keine Anzeichen einer Abschwächung und werde noch jahrelang Teil des Energiesystems sein. Gleichzeitig baut China jedoch auch die erneuerbaren Energien massiv aus. Die Kohlekraft soll als Reserve dienen für Zeiten, in denen wenig Strom aus Wind und Sonne ins Netz eingespeist wird – sogenannte Dukelflauten. In Deutschland ist der Kohleausstieg bis 2038 hingegen längst beschlossene Sache. Doch kommt Deutschland auch ohne fossile Energien aus?
Experten betonen in Gesprächen mit der Berliner Zeitung, dass die Energiewende in der jetzigen Form an ihre Grenzen stößt.
China baut Kohlekraft massiv aus – und reduziert trotzdem CO₂-Emissionen
China investiert nicht nur vermehrt in Kohleenergie, sondern vor allem auch in Solar- und Windkraft. Das Land gilt als einer der Vorreiter beim Umstieg auf erneuerbare Energien. In diesem Jahr rechnet das Crea mit einem Zubau von mehr als 500 Gigawatt bei Wind- und Sonnenenergie. Zum Vergleich: Deutschland verzeichnete nach Angaben der Bundesnetzagentur im vergangenen Jahr einen Zubau von knapp 20 Gigawatt bei Solar- und Windenergie sowie Biomasseanlagen und kam damit auf insgesamt 190 Gigawatt installierter Leistung. Dadurch schaffte es die Regierung in Peking laut einer Analyse des Online Fachportals Carbon Brief, die CO₂-Emissionen trotz des massiven Kohleausbaus im ersten Halbjahr um ein Prozent zu senken. Der Energiesektor als größter Emittent blies in dieser Zeit demnach drei Prozent weniger Kohlenstoffdioxid in die Luft.
Deutschland hat ebenfalls sehr ambitionierte Pläne bei der Energiewende. Bis 2045 soll die Bundesrepublik klimaneutral werden – ein Ziel, das ohne den Ausstieg aus fossilen Energien nicht zu erreichen ist. Seit dem Beschluss der neuen Bundesregierung zum milliardenschweren Sondervermögen steht die Verpflichtung zur Klimaneutralität bis 2045 sogar im Grundgesetz. Allerdings sorgt die zunehmende Einspeisung von Wind- und Solarstrom immer häufiger für Überlastungen im Stromnetz und zu unvorhersehbaren Preisspitzen, vor allem wegen fehlender Speicherkapazitäten.
Wind- und sonnenarme Stunden, sogenannte Dunkelflauten, stellen das deutsche Stromsystem vor große Probleme. Einige Unternehmen wie der Stahlhersteller GMH Gruppe müssen wegen der hohen Strompreise an der Börse dann teilweise sogar ihre Produktion einstellen. In besonders wind- und sonnenreichen Stunden kommt es wiederum immer häufiger zu Überlastungen im Stromnetz. Grund dafür sind fehlende Möglichkeiten zur Speicherung und der hinkende Netzausbau. Im ersten Halbjahr wurden in Deutschland daher deutlich mehr Wind- und Solaranlagen abgeschaltet als im Vorjahr, die Berliner Zeitung berichtete. Kann die Bundesrepublik von Chinas Ansatz lernen?
Ökonom Hans-Werner Sinn: Energiewende „macht Industrie kaputt“
Der Ökonom Hans-Werner Sinn betont, dass der Fokus auf Speicher als Reserve bei der Stromversorgung nicht ausreicht. „Speicherlösungen gehen nur für ganz kurzfristige Schwankungen, innerhalb eines Tages oder vom einen zum anderen Tag“, sagt der frühere Präsident des ifo-Instituts auf Anfrage der Berliner Zeitung. Zudem gebe es über Wochen und Monate hinweg wechselnde Wetterszenarien, insbesondere Dunkelflauten im Winter. „Dagegen helfen keine Speicher für erneuerbare Energien.“ Das sei „vollkommen unwirtschaftlich“, sagt Sinn. Auch Lösungen mit Wasserstoff hält er für „extrem teuer“, allein weil drei Viertel der Energie bei der Schleife vom Strom über den Wasserstoff zurück zum Strom verloren gingen.
„Am billigsten und immer noch umweltverträglich ist das Erdgas“, betont Sinn. Dies könne man preisgünstig speichern und verbrennen, wenn Wind und Sonne fehlen. „Natürlich gehen auch Kohlekraftwerke“, sagt der Ökonom weiter. „Doch stoßen die doppelt so viel CO₂ aus wie vergleichbare Gaskraftwerke.“ Aus Sicht von Sinn reichen die Erdgasspeicher als Reserve in Dunkelflauten aus. Sie müssten nur gefüllt werden. „Dazu bedarf es verbindlicher Vorgaben für die Netzbetreiber.“ Derzeit sind die Gasspeicher in Deutschland allerdings deutlich schlechter befüllt als im langjährigen Durchschnitt. Die Speicherbetreiber warnten in der Berliner Zeitung davor, dass die Speicher bereits jetzt zu leer für den kommenden Winter sind.
Laut Sinn ist Chinas Ansatz keine Option. „Wir müssen wegkommen von der Braunkohle“, betont er. "Denn wenn wir in Deutschland keine Braunkohle abbauen, kann ihr Kohlenstoff auch nicht in die Luft geraten.“ Auch China solle das mit seinen Lagerstätten machen. „Nur in seiner Eigenschaft als Förderland kann ein Land den weltweiten CO₂-Ausstoß verringern.“ Der Kaufverzicht eines Verbraucherlandes oder eines Staatenbunds wie der EU führe jedoch nur dazu, dass andere Länder die freigegebenen Mengen verbrauchen.
Die einzige Alternative zur weltweiten CO₂-Minderung sei die Sequestrierung, also die Abscheidung und unterirdische Speicherung von CO₂, auch CCS („carbon capture and storage“). „Der ganze Rest macht nur die Industrie kaputt und hilft dem Klima nicht.“ Daher sei die Energiewende in der jetzigen Form „vollkommen sinnlos“, so der Ökonom.
Experte betont: Erst erneuerbare Energien ausbauen, dann fossile reduzieren
Auch Manuel Frondel, Bereichsleiter für Umwelt und Ressourcen am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI Essen) und Kolumnist der Berliner Zeitung, hält die deutsche Strategie mit Speichern, Netzausbau und Gaskraftwerken für unzureichend. „Aktuell müssen wir uns sehr auf Importe aus dem Ausland verlassen“, sagt er. Vor allem nachts komme es zu hohen Preisen, weil die Solarenergie nichts zur Stromversorgung beitrage. Seiner Ansicht nach könne es sinnvoll sein, bestehende Kohlekraftwerke mit CCS zu betreiben, statt viele neue Erdgaskraftwerke zu bauen, so wie es die neue Bundesregierung derzeit plant.
Experte betont: Erst erneuerbare Energien ausbauen, dann fossile reduzieren Auch Manuel Frondel, Bereichsleiter für Umwelt und Ressourcen am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI Essen) und Kolumnist der Berliner Zeitung, hält die deutsche Strategie mit Speichern, Netzausbau und Gaskraftwerken für unzureichend. „Aktuell müssen wir uns sehr auf Importe aus dem Ausland verlassen“, sagt er. Vor allem nachts komme es zu hohen Preisen, weil die Solarenergie nichts zur Stromversorgung beitrage. Seiner Ansicht nach könne es sinnvoll sein, bestehende Kohlekraftwerke mit CCS zu betreiben, statt viele neue Erdgaskraftwerke zu bauen, so wie es die neue Bundesregierung derzeit plant.
Laut Frondel gibt es einen pragmatischen Ansatz bei der Energiewende: Erst die erneuerbaren Kapazitäten ausbauen und dann schrittweise die fossilen Kraftwerke reduzieren. „Deutschlands gleichzeitiger Ausstieg aus Kernkraft und Kohle mache die Transformation wiederum „besonders komplex und teuer – vor allem, weil beide Technologien grundlastfähige Energie liefern“. Dieser Ansatz erhöhe sowohl die Kosten als auch die Versorgungsrisiken, kritisiert er.
Aus Sicht des Energieexperten sollte Deutschland einen Teil der zuletzt abgeschalteten Atomkraftwerke wieder in Betrieb nehmen, um die Energiewende verbraucherfreundlich zu gestalten. Tatsächlich kam eine Studie der amerikanischen Strategieberatung Radiant Energy Group im vergangenen Dezember zu dem Ergebnis, dass Deutschland bis 2028 drei Kernreaktoren und bis 2032 neun in Betrieb nehmen könne. „Kernenergie bietet klimaneutrale Grundlast und könnte dazu beitragen, dass wir die Klimaschutzziele kostengünstiger erreichen als durch den alleinigen Fokus auf Erneuerbare plus teure Back-up-Systeme“, sagt Frondel. Das würde sowohl die Strompreise stabilisieren als auch die Versorgungssicherheit erhöhen.
Energieexpertin fordert mehr „Systemflexibilität“ in Deutschland
Energieexpertin Claudia Kemfert hält dagegen. Ihrer Ansicht nach reicht der derzeitige Ansatz in Deutschland zur sicheren Energieversorgung aus. Nämlich „dann, wenn Batteriespeicher, Lastmanagement und Netzausbau konsequent vorangetrieben werden“, sagt die Abteilungsleiterin für Energie, Verkehr, Umwelt beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) auf Anfrage. „Systemflexibilität ist der Schlüssel, ergänzt durch Wasserstoff und regionale Speicherlösungen.“
Laut Kemfert senkt China seine Emissionen nur, weil die Erneuerbaren extrem stark wachsen. Kohle bleibe aber ein Risiko. „Alte Kohlekraftwerke sind klimaschädlich und unflexibel.“ In Deutschland seien flexible Speicher, moderne Netze und regelbare erneuerbare Systeme die bessere Reserve. „Deutschlands Weg, fossile Energien zu ersetzen statt zu stützen, ist langfristig effizienter, sauberer und innovationsfördernd“, sagt Kemfert. Es brauche mehr Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien, der Netze und der Speicher. Investitionen in Effizienz, Digitalisierung und grüne Industrie würden die Wettbewerbsfähigkeit sichern, so die Energieexpertin. Zudem würden Planungs- und Förderklarheit Kosten reduzieren und Vertrauen schaffen.
Nachzulesen auf www.berliner-zeitung.de.