Standort herzkrank! Das wird die deutsche Industrie nicht überleben

Finn Determeyer, noz.de, 28. September 2025.

Wie tief steckt Deutschland wirklich in der Krise? Seit 2018 hat die Wirtschaft kaum noch Wachstum gesehen, in den vergangenen zwei Jahren rutschte das Land sogar in eine leichte Rezession. Im Expertentalk mit Michael Clasen entwirft Hans-Werner Sinn eine ernüchternde Prognose für die Zukunft.

Der frühere Präsident des renommierten ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, hat im Expertentalk mit Michael Clasen von einem Prozess der "Deindustrialisierung" in Deutschland gesprochen - und hält viele politische Versprechen der vergangenen Jahre für "offenkundigen Unsinn".

Sinn macht den Bruch deutlich: „Deutschland ist in einem Prozess der Deindustrialisierung und der hat tatsächlich mit dem Jahr 2018 begonnen, sichtbar in den Daten. Die Industrieproduktion ist insgesamt um 15 % seitdem gefallen.“ Besonders hart treffe es die Autoindustrie, die seit 2018 „um 22 % abgenommen“ habe. Bosch oder andere große Zulieferer seien Symptome einer Entwicklung, die das Rückgrat der Wirtschaft schwäche.

Sinn sieht schwere Verfehlungen bei Ex-Kanzler Scholz

Vor diesem Hintergrund hält Sinn nichts vom grünen Versprechen eines neuen Wirtschaftswunders. Als Olaf Scholz 2023 von Wachstumsraten wie in den 1950er Jahren sprach, sei das „offenkundiger Unsinn gewesen“. Die Idee, Deutschland könne durch Klimaschutz und neue Technologien Wachstumsschübe erzielen, sei eine Illusion. „Das war von vornherein vollkommener Unsinn. Den Leuten wurde das Blau vom Himmel versprochen.“

Auch die aktuelle Wirtschaftspolitik sieht Sinn kritisch. Hohe Schuldenprogramme führten zwar kurzfristig zu Nachfrageimpulsen, seien aber kein echtes Wachstum. „Echtes Wachstum ist die Erhöhung des Potenzials. Das geschieht durch Investitionen, sodass Fabriken entstehen. In diesen Fabriken kann mehr produziert werden. Das ist Wachstum – und nicht einfach nur die künstliche Erhöhung der Nachfrage.“ Prognosen, die für die kommenden Jahre wieder bessere Zahlen erwarten, glaubt er nicht: „Prognosen taugen in dieser Zeit des strukturellen Umbruchs nicht.“

Bürokratie in Brüssel macht Deutschland „herzkrank“

Die Ursachen für den Abstieg sieht Sinn vielfältig: zu hohe Energiekosten, überbordende Bürokratie, die demografische Entwicklung, und vor allem politische Eingriffe in die Industrie. Besonders hart geht er mit der EU ins Gericht. Die Flottengrenzwerte für Autos seien eine „Mogelei“, weil Elektroautos bilanziell als CO₂-frei gewertet würden. „Das ist einfach nicht wahr. Auch ein E-Auto fährt mit fossilen Brennstoffen.“

Die Folge: ein faktisches Verbot des Verbrennungsmotors und damit ein Schlag gegen Deutschlands wichtigste Industrie. „Das Ergebnis dieser Politik ist eben die Katastrophe im Automobilsektor. Deutschland ist herzkrank geworden durch diesen bürokratischen Entscheid von Brüssel.“

Hinzu komme die Energiepolitik. Wind- und Sonnenstrom reichten allein nicht, teure Gaskraftwerke müssten als Reserve vorgehalten werden. Speicherlösungen seien zu ineffizient. „Es ist ein Programm der Deindustrialisierung. Das wird die Industrie nicht überleben.“

Sinn: „Keine sinnvolle Energiepolitik“

Die Abschaltung der Atomkraftwerke bezeichnet Sinn als schweren Fehler: „Wir haben eine ganze Menge von auch ganz modernen Kraftwerken in Deutschland jetzt denaturiert. Ich kann das nicht nachvollziehen. Das ist keine sinnvolle Energiepolitik.“

Auch die Klimapolitik insgesamt hält er für naiv. Wenn Deutschland oder Europa weniger Öl und Gas kauften, würden die Ressourcen eben anderswo verbrannt. „Was man tut, muss auch wirken. Und das kann nicht wirken, wenn nur ein Teil der Welt den Verbrauch reduziert bei handelbaren Brennstoffen.“ Sinn fordert, nur Ressourcen im Boden zu lassen oder CO₂ abzuscheiden und zu speichern. „Das einzige, was man unilateral machen kann, ist Brennstoffe, die wir selber in der Erde haben, nicht rauszuholen. Oder man muss sequestrieren.“

Finstere Prognose für die Zukunft

Die Bilanz fällt düster aus. Für die kommenden Jahrzehnte erwartet Sinn eine Gesellschaft, die mit den Lasten der Babyboomer-Generation und einer schrumpfenden Industrie zu kämpfen hat. „Es geht jetzt nicht mehr um glorreiche Zukunftsszenarien, das ist alles nicht mehr möglich, sondern es geht um die Schadensminimierung für die Generation der Enkel.“

Optimismus lässt der Ökonom durchblicken, allerdings auf nüchterner Grundlage. „Ich bin so optimistisch, wie ich sein kann. Ich versuche vor allem erstmal realistisch zu sein, weil die Grundvoraussetzung für Optimismus ist die korrekte analytische Basis.“

Nachzulesen auf www.noz.de.

Zum Video des Expertentalks mit Michael Clasen