„Berliner Luft, Subsidiarität und der Kampf gegen die deutschen Autos“

Die Maßnahmen Brüssels gegen die deutsche Autoindustrie sind umweltpolitisch kontraproduktiv und verstoßen gegen die EU-Verträge.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 22. Oktober 2018.

Ihres englischen Partners verlustig, geschwächt durch die Anmaßungen seiner eigenen Flüchtlingspolitik und erpressbar durch riesige Target-Forderungen der Bundesbank muss sich die Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren auf schärferen Gegenwind aus Brüssel einstellen. Ein Vorbote ist die Entscheidung des Ministerrats, den CO2-Ausstoß der PKWs bis zum Jahr 2030 gegenüber 2020 um weitere 35% zu reduzieren. Deutschland hatte 30 Prozent konzediert – und muss nun glücklich sein, wenn das EU-Parlament die Reduktion nicht noch auf 40 Prozent ausdehnt.

Bereits der für die Zeit von 2015 bis 2020 vorgesehene Rückgang des CO2-Ausstoßes von 130 Gramm auf nur noch 95 Gramm pro Kilometer ist technisch kaum machbar – es sei denn, man produziert in Zukunft nur noch Klein- und Kleinstwagen. Denn 95 Gramm entsprechen einem Dieselverbrauch von etwa vier Litern und einem Benzinverbrauch von 4,4 Litern pro 100 Kilometer.

Mit einem Reduktionsziel von weiteren 35 Prozent oder 33 Gramm werden daraus 2,6 beziehungsweise 2,9 Liter.

Auch wenn man berücksichtigt, dass schwerere Autos wegen eines Massekorrekturfaktors noch etwas mehr verbrauchen dürfen, sind das unrealistisch niedrige Traumzahlen. Ein Mittelklassewagen mit einem Zwei-Liter-Motor kann heute im realen Fahrbetrieb kaum unter sieben bis acht Litern bewegt werden. Für die deutsche Automobilindustrie, die sich auf das Premiumsegment spezialisiert hat, ist das eine Hiobsbotschaft. Die Industrie beschäftigt je nach Rechnung zwischen 600 000 und 800 000 Menschen. Wusste die deutsche Regierung eigentlich, was sie tat, als sie eine Reduktion um 30 Prozent anbot?

Man kann nun natürlich auf Elektromotoren ausweichen, die mit einem CO2-Ausstoß von null angesetzt sind. Das ist aber gemogelt, denn wenn der Strom aus Kohle hergestellt wird, kommt man auf viel höhere CO2-Werte als bei modernen Dieselmotoren: weil Kohlekraftwerke nur einen thermischen Wirkungsgrad von etwa 45 Prozent haben, weil bei der Verteilung des Stroms mindestens etwa sechs Prozent verloren gehen und weil bei dessen Durchlauf durch die Batterien bis zur Erzeugung der Bewegungsenergie ein Wirkungsgrad von 80 Prozent erwartet werden kann. Der Gesamtwirkungsgrad eines „Kohlemotors“ liegt demnach bei etwa 34 Prozent, während moderne Dieselmotoren auf 45 Prozent kommen.

Es kommt hinzu, dass beim Dieselöl wegen des hohen Wasserstoffanteils bei der Verbrennung viel weniger CO2 freigesetzt wird als bei der Kohle. Wenn die Atomkraftwerke abgeschaltet und dann zunächst durch Kohlekraftwerke ersetzt werden,  kommt man bei den Elektroautos auf einen 60 Prozent höheren CO2-Ausstoß als beim Diesel. Und das, obwohl ein erheblicher Teil des Stroms schon aus regenerativen Quellen stammt. Schilda lässt grüßen.

Industrie- statt Umweltpolitik

Im Übrigen verringert sich der CO2-Ausstoß weltweit schon deswegen nicht durch die europäischen Maßnahmen, weil die Mengen an Öl, die Europa nicht verbraucht, in andere Gegenden der Welt verkauft und dort verbrannt werden. Nur wenn Europa durch seinen Nachfragerückgang einen so starken Preisverfall auf den Weltmärkten hervorriefe, dass nicht nur die anderen Länder mehr verbrauchen, sondern Ölquellen stillgelegt werden, weil die Preise die Förderkosten nicht mehr decken, könnte es zu einem positiven Umwelteffekt kommen. Das aber ist angesichts der derzeit riesigen Spannen zwischen Produzentenpreisen und Förderkosten noch ein sehr weiter Weg.

Es geht ja bei alldem auch nicht um Umweltpolitik, sondern um Industriepolitik. Die Hersteller von Kleinwagen, die Erzeuger von Wind-, Wasser- und Sonnenstrom, die französische Atomlobby und die französischen Hersteller von Elektroautos sitzen heute, behaglich eingehüllt in ihre grünen Mäntelchen, politisch und moralisch am längeren Hebel, zumal sich die deutsche Automobilindustrie durch die Stickoxid-Tricksereien der vergangenen Jahre selbst diskreditiert hat.

Der Stickoxid-Skandal kommt der neuen Brüsseler Industriepolitik zupass. Neue Testverfahren verteuern die Dieselautos weiter und treiben die Verbraucher wieder zu den Benzinmotoren zurück, was das Erreichen des CO2-Ziels noch schwieriger macht, weil diese Motoren weniger effizient arbeiten. So werden die Elektroautos letztlich mit dem Holzhammer erzwungen.

Und nun spielen auch noch die Gerichte mit. Weil die Städte die von der EU fixierten Immissionswerte überschreiten, verhängen deutsche Gerichte reihenweise Fahrverbote. Frankfurt, Hamburg und Berlin waren erst der Anfang.

Auch das ist im Kern harte Industriepolitik – und eine Amtsanmaßung des Brüsseler Apparats. Wieso hat die EU eigentlich den nationalen Parlamenten mit ihren Vorschriften zum städtischen Immissionsschutz zahlenmäßig strikte Vorgaben gemacht, ohne ihnen selbst irgendwelche Entscheidungsspielräume zu belassen?

Und wieso wird die EU überhaupt aktiv? Eigentlich schließt der Maastrichter Vertrag (Artikel 5) mit Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip Politikmaßnahmen Brüssels, die sich auf lokale Belange erstrecken, explizit aus. Die EU darf, ökonomisch gesprochen, nur regeln, was lokal wegen grenzüberschreitender Externalitäten nicht sinnvoll geregelt werden kann. Eine krassere Verletzung des Subsidiaritätsprinzips als Brüssels Eingriff in die Berliner Luft ist kaum vorstellbar.

Nachzulesen unter www.wiwo.de.