Arbeitsanreize durch Lohnzuschüsse – so schafft man Jobs.

Deutschland hat seine Beschäftigungserfolge vor allem der Arbeitsmarktreform von Gerhard Schröder zu verdanken. Jetzt findet sie in Österreich Nachahmer.
Hans-Werner Sinn

Wirtschaftswoche, 9. Februar 2018, S. 67.

Als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 2003 seine Reformpolitik in einer langen Rede im Bundestag ankündigte, stockte er, als er die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe vorschlug. Die Arbeitslosenhilfe war ein zweites, zeitlich unbegrenzt gewährtes Arbeitslosengeld, das eine Absicherung in Höhe von etwa 55 Prozent des letzten Nettolohns implizierte, sobald die Frist für den Erhalt des normalen Arbeitslosengeldes ausgelaufen war. Schröder wusste, dass er etwa einer Million Ostdeutschen und einer Million Westdeutschen ein Einkommen wegnahm, auf das sie sich eingerichtet hatten. Aber er wagte die Reform, um den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. 

Echte Zuschüsse

Die Betroffenen mussten sich, nachdem dieser Teil der Reform 2005 rechtskräftig wurde, fortan mit einer modifizierten Sozialhilfe begnügen. Man belegte diese Reform mit dem Namen „Hartz IV“, weil es noch andere vorgelagerte Reformen gab, die ab 2003 wirksam wurden. Sie hatten unter anderem die Erleichterung der Leiharbeit, die Einführung von 400-Euro-Jobs und die Umgestaltung der Bundesanstalt für Arbeit zum Gegenstand. 

Die Sozialhilfe wurde modifiziert, indem man das alte Aufstockungssystem abschaffte und ein Lohnzuschusssystem einführte. Vormals galt in weiten Bereichen, dass das Lohneinkommen, wenn es kleiner als die Sozialhilfe war, bis zum Sockelbetrag der Sozialhilfe aufgestockt wurde. So führte jeder Euro, den man selbst mehr verdiente, zu einem Transferentzug von einem Euro. Diese Regelung wurde durch die Reformen insofern verändert, als für jeden selbst verdienten Euro nur noch 80 Cent an Sozialhilfe entzogen wurden. Damit wurde das alte Aufstockungssystem durch einen echten Lohnzuschuss ersetzt, der über das Niveau der Sozialhilfe hinausführte. Die neue Sozialhilfe nannte man Arbeitslosengeld II. 

Impliziter Mindestlohn

Schröder sprach davon, dass es kein Recht auf Faulheit gebe. Das hat viele Bürger zu dem Glauben veranlasst, seine Reform wirke dadurch, dass sie den Faulen Beine mache und sie veranlasse, die bereits angebotenen Jobs anzunehmen. Tatsächlich wirkte die Reform jedoch dadurch, dass sie den impliziten Mindestlohn, der vormals im deutschen Sozialsystem steckte, reduziert hat. Die Reduktion spreizte die Lohnskala nach unten aus und ließ vormals unrentable Geschäftsmodelle rentabel werden und neue Jobs entstehen. 

Der implizite Mindestlohn ist jener Betrag, den ein Arbeitgeber mindestens bieten muss, damit ein Arbeitnehmer sich bei ihm besser stellt, als wenn er zu Hause bleibt und sich vom Sozialstaat ernähren lässt. Er ist gleich der Differenz zwischen dem Betrag, den jemand vom Staat erhält, wenn er nicht arbeitet, und jenem Betrag, den der Staat hinzugibt, wenn er arbeitet, denn diese Differenz ist das, was er durch die Aufnahme einer Arbeit netto an staatlicher Leistung verliert und was der Arbeitgeber überbieten muss. Die Differenz sank durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Einführung der Lohnzuschüsse. 

Vor der Reform war in Deutschland die Arbeitslosigkeit im Laufe der Jahrzehnte immer weiter gestiegen. Während es 1970 nur etwa 150 000 Arbeitslose in Westdeutschland inklusive Westberlin gab, stieg diese Zahl jedes Jahrzehnt um etwa 800 000 Personen und erreichte im Jahr 2005 etwa 3,5 Millionen Personen. Die Zahl der Arbeitslosen in Gesamtdeutschland stieg damals sogar auf etwa fünf Millionen. 

Nach der Schröder-Reform kam es zu einem wahren Beschäftigungswunder. Der geradezu katastrophale Trend wurde gebrochen. Die Zahl der Arbeitslosen ging in Westdeutschland um deutlich über eine Million und in Gesamtdeutschland um zwei Millionen zurück. Deutschland war nun nicht mehr Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten wie noch vor der Reform, sondern befand sich im Mittelfeld der Länder. 

Und das Gute war: Obwohl die Löhne stärker ausgespreizt wurden, nahm die Ungleichheit der Nettoeinkommen nicht zu, sondern sogar leicht ab, weil viele Menschen, die zuvor arbeitslos waren, nun über ein Lohneinkommen verfügten und zudem noch einen Lohnzuschuss erhielten. 

Vorbild für Österreich

Vielfach wird behauptet, man müsse ein System schaffen, bei dem jeder von seiner Hände Arbeit leben kann. Das ist in der Marktwirtschaft kaum möglich, weil man Unternehmen nicht zwingen kann, Leute zu beschäftigen, deren Lohnkosten über ihrer Produktivität liegen, die die Betriebe also mehr kosten, als sie bringen. Man kann aber, wie es mit der Agenda 2010 geschah, durch Lohnzuschüsse ein System schaffen, bei dem jeder, der arbeiten will, auch arbeiten kann, und dann genug zum Leben hat. Kein Wunder, dass die Schröder'sche Reform nun Schule macht und unter anderem in Österreich nachgeahmt werden soll. 

Nachzulesen bei www.wiwo.de.