ifo-Chef Sinn: „Es kann kein vereinigtes Europa geben mit 28 separaten Armeen“

Hans-Werner Sinn

focus.de, 27.12.2015.

Wenn Hans-Werner Sinn im März in Pension geht, will er sich nicht mehr zu aktuellen Themen äußern. FOCUS Online hat der Top-Ökonom erzählt, welchen Schwerpunkt er in der Flüchtlingskrise setzen würde - und welches historische Angebot Angela Merkel den Franzosen machen müsste.

FOCUS Online: Herr Professor Sinn, Sie haben die Debatte um die Agenda 2010, den Euro und jetzt auch die Flüchtlinge entscheidend geprägt. Suchen Sie sich solche Themen gezielt aus?

Hans-Werner Sinn: Nein, die sucht sich die Geschichte aus. Ich sehe es als meine Aufgabe an, zu Themen zu schreiben, die von historischer Relevanz sind. Zu den genannten Themen hatte ich zu einem früheren Zeitpunkt jeweils schon intensiv wissenschaftlich gearbeitet. Ich bin ein alter Mann, der sich nun schon ein halbes Jahrhundert mit ökonomischen Themen beschäftigt hat. Und ich habe gelernt: Die Politiker hören den Volkswirten nur zu, wenn es das Volk tut. Als Volkswirt sehe ich es als meine Aufgabe an, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen, und als Präsident eines Leibniz-Instituts ist es zudem meine Dienstaufgabe.

FOCUS Online: Hätten Sie Ihre Vorschläge gerne als Politiker selbst umgesetzt?

Hans-Werner Sinn: Das ist eine irreale Frage. In der politischen Wirklichkeit geht es um Mehrheiten und nicht um Wahrheiten. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass ich ein guter Politiker wäre. Schuster bleib bei Deinen Leisten.

FOCUS Online: Angenommen Sie könnten entscheiden. Was wäre die wichtigste Reform, die jetzt angepackt werden muss?

Hans-Werner Sinn: Dass wir den Maastricht-Vertrag neu verhandeln.

FOCUS Online: Warum?

Hans-Werner Sinn: Weil er der Verschuldung der Eurostaaten Grenzen setzt, diese aber seit Jahren nicht eingehalten werden. Und wir müssen wegkommen von der bloßen Umverteilung der Haftung hin zur Hauptsache dessen, was einen Staat ausmacht: die Souveränität und seine Außengrenzen.

FOCUS Online: Die Südeuropäer werden bei so einem - für sie nachteiligen - neuen Maastricht-Vertrag nicht mitziehen.

Hans-Werner Sinn: Ich glaube nicht, dass das für sie nachteilig wäre, im Gegenteil. Aber wenn es so ist, würde ich auch keinen einzigen Cent mehr locker machen für die neuen Umverteilungsaktionen, die von uns verlangt werden.

FOCUS Online: Die nächste steht schon bevor: Die EU-Kommission macht Tempo für einen europäischen Einlagensicherungsfonds. Gleichzeitig kollabieren in Italien die ersten Banken. Ist das Zufall?

Hans-Werner Sinn: Ganz sicher nicht. Italiens Premier Renzi macht seit Monaten Druck bei dem Thema. Er will an die deutschen Ersparnisse ran.

FOCUS Online: Deutsches Geld soll den Euro zusammenhalten?

Hans-Werner Sinn: Wir haben im Gegensatz zu den anderen Ländern zumindest nominell noch ein erkleckliches Nettoauslandsvermögen. Wenn wir riesigen Haftungsapparaturen zustimmen und das Geld rausrücken, bevor die politische Einigkeit Europas erreicht ist, werden wir sie nie mehr bekommen. Im Gegenteil: Die europäische Einheit wird unwahrscheinlicher, denn wir geben unseren Joker auf. Frankreich ist das Problem, weil es das Fernziel der Vereinigten Staaten von Europa ablehnt. Die Franzosen wollen ihr Militär für sich allein haben und es nicht einer europäischen Kontrolle unterwerfen. Erlauben Sie mir einen Witz?

FOCUS Online: Nur zu.

Hans-Werner Sinn: Frau Merkel liebt Herrn Hollande. Das stimmt nicht, aber nehmen wir es mal an. Herr Hollande liebt das Geld von Frau Merkel. Das stimmt schon eher. Sie reden über Heirat. Aber Hollande schlägt vor, vorher schon einmal eine Gütergemeinschaft zu begründen. Glauben Sie, dass die Hochzeit noch stattfinden wird, wenn Frau Merkel darauf eingeht? Ich nicht. Das genau ist der Kern des europäischen Problems.

Wenn wir nicht die 28 Armeen der Mitgliedsstaaten zusammenlegen, wird es nie ein vereinigtes Europa geben. Die Franzosen haben es geschafft, dieses Tabu-Thema aus der Diskussion auszuklammern. Stattdessen haben sie uns erklärt, es sei zum Wohle Europas, wenn wir Rettungsschirme aufspannen, um die französischen Banken rauszuhauen und ihre Absatzmärkte in Südeuropa zu sichern.

FOCUS Online: Was genau ist Ihr Vorschlag?

Hans-Werner Sinn: Wenn Frau Merkel wirklich als europäische Einigungskanzlerin in die Geschichtsbücher eingehen will, dann muss sie den Franzosen den historischen Deal anbieten: Wir bilden eine europäische Konföderation mit einem gemeinsamen Finanzminister und einem kleinen europäischen Budget. Und dafür akzeptiert ihr, dass wir die Armeen auflösen und unter ein einheitliches europäisches Oberkommando stellen. Es war ein Fehler, eine Währungsunion vor einer politischen Union einzuführen. Wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Armee, eine gemeinsame Grenzsicherung. Wir sollten uns an der Schweiz oder den USA orientieren, wo die politische Union am Anfang stand und das Fiskalische - gemeinsame Staatshaushalte und Regelungen dafür - erst im Laufe der Jahrzehnte hinzukam. Wir gehen bei der Vergemeinschaftung der Geldbörsen viel zu schnell vor. Die Franzosen schlagen jetzt gemeinsame Eurobonds, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung und eine gemeinsame Sicherung der Bankeinlagen vor. Darauf sollten wir nicht eingehen.

FOCUS Online: Was hat das miteinander zu tun?

Hans-Werner Sinn: Erstens weil uns dann ein Faustpfand für die politische Union fehlt. Zweitens, weil es dazu führt, dass man diese Instrumente missbraucht, ähnlich wie schon das Eurosystem für eine Rettung maroder Banken und finanzschwacher Staaten benutzt wurde. Eine föderale Union kann nur auf Basis des Haftungsprinzips funktionieren: Wer einem Staat sein Geld gibt, muss auch für dessen Konkurs geradestehen. Das bedeutet eine klare No-Bailout-Regel, wie sie vom Maastrichter Vertrag verlangt wird: Wenn ein Staat pleitegeht, hilft die Zentralbank nicht seinen Gläubigern, indem sie Wertpapiere dieses Staates kauft. Es helfen auch keine anderen Staaten. In der Schweiz würde der Bund niemals für den Konkurs eines Kantons eintreten. Auch in den USA wäre das nicht der Fall. Keiner hilft Kalifornien, Illinois oder Minnesota. Die amerikanische Zentralbank kauft - im Gegensatz zur EZB - keine Staatspapiere von Einzelstaaten.

Überschuldung entsteht auch durch die Nachlässigkeit der Gläubiger: Sie sind bereit, Geld zu geben, weil sie wissen, dass es jemand anderes im Zweifel zurückzahlt. Die Erwartung im Euroraum ist, dass alle für alle einstehen. Das führt zu Schuldenexzessen, die den zum Schutz dagegen ausgehandelten Fiskalpakt zur Makulatur haben werden lassen.

FOCUS Online: In Ihrer Schlussvorlesung vor zwei Wochen in München haben Sie erzählt, dass Sie sich im Studium für die Planwirtschaft begeistert haben, dann aber nach einem Besuch in Jugoslawien davon abgekommen sind, weil das System nicht funktioniert.

Hans-Werner Sinn: Ganz so stimmt es nicht. Ich habe mich niemals dafür begeistert, ich war nur als junger Student unschlüssig, was das bessere System ist. Als ich ein Seminar zur jugoslawischen Firma organisierte, war die Systemfrage schon lange für mich entschieden.

FOCUS Online: Derzeit wird wieder viel nach dem Staat gerufen. Sehen Sie auch bei uns Ansätze von Planwirtschaft?

Hans-Werner Sinn: Wenn sie nach planwirtschaftlichen Elementen in der Marktwirtschaft fragen, fällt mir der Mindestlohn ein. Der Staat darf zwar den einen Geld wegnehmen und es den anderen geben, also sozialstaatliche Umverteilung betreiben. Aber er darf nicht in die Preisbildung der Märkte eingreifen. Wir brauchen ja nur nach Frankreich zu sehen, um die verheerenden Konsequenzen des Mindestlohns zu studieren: Eine hohe Jugendarbeitslosigkeit führt zu einer Radikalisierung. Erinnern Sie sich nicht mehr an die Herbst-Aufstände der Schüler, die brennenden Schulbusse? Da entstehen gefährliche Parallelgesellschaften. Das hat unmittelbar miteinander zu tun.

FOCUS Online: Es gibt auch Länder, in denen der Mindestlohn gilt und wo es ruhig ist.

Hans-Werner Sinn: Dass der Mindestlohn irgendwo nützliche Wirkungen entfaltet, wage ich zu bezweifeln. Manchmal ist er so niedrig, dass er nicht weiter stört. Statt eines Mindestlohns nebst einer Finanzierung der dadurch verfestigten Arbeitslosigkeit, sollte man besser ein System mit flexiblen Löhnen und persönlichen Lohnzuschüssen zur Aufbesserung der Einkommen einführen. Im Prinzip hat die Regierung Schröder das mit der Agenda 2010 getan. Das sollte man weiter ausbauen.

FOCUS Online: Deutschland hat jetzt ein Jahr den Mindestlohn, und die Arbeitslosigkeit ist nicht gestiegen. Liegen Sie falsch?

Hans-Werner Sinn: Die Wirkung des Mindestlohns zeigt sich nicht nach zwölf Monaten, sondern über Jahre hinweg. Die Schröder'schen Reformen, die auf eine Senkung des impliziten Mindestlohns im Sozialsystem hinausliefen, haben nach sieben Jahren ihre volle Wirkung entfaltet und gegen den Trend gerechnet allein in Westdeutschland 1,2 Millionen zusätzliche Jobs gebracht. Die Erhöhung des Mindestlohns wird in erheblichen Umfang zur Vernichtung derzeit gerade noch rentabler Geschäftsmodelle im Dienstleistungssektor führen. Die Effekte kommen rascher zustande, als wir es erwartet hatten. Das Ifo-Institut hatte vermutet, dass in der Anfangszeit noch keine besonderen Effekte auftreten. So hatten wir für 2015 80.000 Minijob-Verluste prognostiziert. Tatsächlich sind – laut Statistik der Bundesarbeitsagentur – gut 170.000 Minijobs verloren gegangen.

FOCUS Online: Es könnte sein, das diese Menschen jetzt richtige Beschäftigungsverhältnisse haben.

Hans-Werner Sinn: Das mag einen Teil erklären, aber sicher nur einen Teil.

FOCUS Online: Gibt es eine Prognose für 2016?

Hans-Werner Sinn: Nein. Wir planen zunächst eine Umfrage unter den Unternehmen dazu. Es könnte sein, dass Unternehmen, die ein Jahr lang versucht haben, ihr Geschäftsmodell trotz Mindestlohn fortzusetzen, jetzt Pleite gehen oder die Konsequenzen ziehen. Gleichzeitig haben wir positive konjunkturelle Effekte, die das überlagern: einen extrem niedrigen Euro und einen ebenfalls sehr niedrigen Ölpreis. Der eine befeuert den Export, der andere die Binnennachfrage. Das ist einer der Gründe, warum man einige Jahre warten muss, bis die Effekte voll zum Tragen kommen.

FOCUS Online: Können wir im Mindestlohn Jobs für hunderttausende Flüchtlinge schaffen?

Hans-Werner Sinn: Nein, jedenfalls nicht nachhaltig. Man muss eigentlich in den Segmenten des Arbeitsmarkts, wo die Flüchtlinge ihre Arbeitskraft anbieten, Lohnflexibilität zulassen – also unter den Mindestlohn gehen. Warum sollen die Unternehmen mehr Arbeitskräfte nachfragen, bloß weil sich mehr anbieten? Das passiert in einer Marktwirtschaft unter sonst gleichen Bedingungen nur, wenn der Lohn fällt. 

FOCUS Online: Wie tief müsste der Lohn sein, damit wir die Flüchtlinge beschäftigen können?

Hans-Werner Sinn: Das kann ich nicht sagen. Wenn die Flüchtlinge hochqualifiziert wären, wäre der Mindestlohn kein Thema. Viele sind aber nicht hoch-, sondern gering qualifiziert. Schon weil sie die deutsche Sprache nicht beherrschen und keine lateinische Schrift können. Das gilt selbst dann, wenn sie zu Hause als qualifiziert galten.

FOCUS Online: Es gibt doch Fähigkeiten, die unabhängig sind von der Sprache. Zum Beispiel Mathematik.

Hans-Werner Sinn: Man hat 2011 Tests gemacht - in Syrien zum Beispiel. Die zeigen, dass dort zwei Drittel der Hauptschüler, die mit 15 Jahren die Schule verlassen, nicht rechnen können. Und selbst bei den Flüchtlingen, die in der Türkei in Auffanglagern landen, lag die Quote bei 46 Prozent. 

FOCUS Online: Sie haben selbst gesagt, es müsse Zuwanderung geben, sonst könnten wir unsere demographische Lücke gar nicht schließen.

Hans-Werner Sinn: Ja, aber das müssen Leute sein, die wir uns aussuchen. Und nicht die, die jetzt aus anderen Kulturkreisen aus eigenem Antrieb hier rein drängen. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit der osteuropäischen Einwanderung gemacht: Deutsche aus Russland, die Polen und die Tschechen waren allesamt gut ausgebildet. Der Kommunismus ist nicht wegen schlechter Schulen zusammengebrochen. Auch die Menschen, die im Balkankrieg zu uns flohen, hatten eine hohe Schulbildung.

FOCUS Online: Wir können es uns derzeit nicht aussuchen.

Hans-Werner Sinn: Eben! Deswegen ist die Aufnahme der Flüchtlinge eine humanitäre Aufgabe, und nicht etwas, von dem wir profitieren. Dessen ungeachtet gehört ein Zuwanderungsgesetz zwingend zur Lösung der Flüchtlingskrise dazu.

FOCUS Online: Warum?

Hans-Werner Sinn: Weil wir unter den abgewiesenen Zuwanderern vielleicht welche finden, die wir gebrauchen können. Die Entscheidung, ob sie hierbleiben können oder nicht, ist eine rein humanitäre Entscheidung – und keine ökonomische. Aber unter denen, die da abgewiesen werden, mag es ja welche geben, die unter ökonomischen Gesichtspunkten sehr gut zu uns passen würden.

FOCUS Online: Sie meinen, wenn die schon mal da sind, sollten wir sehen, ob wir einige von ihnen behalten?

Hans-Werner Sinn: Ja. Wenn da wirklich Hochqualifizierte kommen, dann sollten wir sie nicht zurückschicken - auch wenn sie kein Asylrecht beanspruchen können.

FOCUS Online: Herr Professor, im März gehen Sie in Pension, Ihre Abschiedsvorlesung haben Sie bereits gehalten. Dort sagten Sie, dass Sie sich künftig nicht mehr zu aktuellen Themen äußern werden. Wird Ihnen das nicht schwer fallen?

Hans-Werner Sinn: Vielleicht, ich weiß es nicht. Im Moment fühle ich mich erleichtert. Ich habe das Gefühl: Ich habe einen schweren Rucksack getragen, bin an der Herberge angekommen und darf ihn nun bei Seite legen.

Das Gespräch führte Markus Voss.

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