Deutschland ist der größte Verlierer

Hans-Werner Sinn warnt vor den Folgen des Brexits. Nähme die Europäische Union diesen Denkzettel nicht ernst, würde sie das wichtigste politische und ökonomische Projekt der Nachkriegszeit gefährden.
Hans-Werner Sinn

Handelsblatt, 01.07.2016, S. 54-57

Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Geschwindigkeit Großbritannien in so manchen Hauptstädten Kontinentaleuropas abgeschrieben wird. Doch das Vereinigte Königreich bleibt auch nach einem Austritt eine große Wirtschaftsnation in Europa, mit der man sich arrangieren muss. Strafaktionen gegen das britische Volk, von denen manche nun träumen, werden sich nicht auszahlen. Das Land wird genug Probleme mit sich selbst haben. Politiker, die von „Rosinenpicken“ sprechen, wenn sie dem Land nun den Freihandel mit der EU verbieten wollen, beweisen nur ihr eigenes Unverständnis. Freihandel ist kein Nullsummenspiel. Wer ihn einschränkt, schadet sich selbst.

Die EU sollte sich nun lieber kritisch mit sich selbst auseinandersetzen. Der Trick, den in Brüssel entstandenen Filz mit Europa zu identifizieren, um im Windschatten der Integrationsbegeisterung der Menschen Pfründe und Macht verteilen zu können, verfängt nicht mehr. Die Bürger wollen keine beruhigenden Sprüche, sondern eine Politik, die sie begreifen und die ihnen selbst erkennbare Vorteile bietet. Wer jetzt den alten Kurs weitergehen und dabei gar noch den Schritt beschleunigen will riskiert die Zerstörung Europas.

Vor 25 Jahren wollte Deutschland die Bürgernähe durch die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Maastrichter Vertrag sicherstellen. Doch nirgendwo sind im Brüsseler Apparat Anstrengungen sichtbar geworden, die gezeigt hätten, dass man dieses Prinzip ernst nahm. Im Gegenteil, man raffte so viel Macht zusammen, wie es die nationalen Regierungen gerade noch tolerierten, und verstieg sich zu ausufernden Regulierungsmaßnahmen bis hin zum Verbot von Glühbirnen und leistungsfähigen Staubsaugern, die immer mehr Kopfschütteln verursachen.

Die wirklich wichtigen Dinge, die Integration des Militärs, die Schaffung einer europäischen Armee, ignorierte man. Was aber soll das für eine Europäische Union sein, die nicht einmal ihre Grenzen kontrollieren kann?

Risikofaktor Brüssel

Das überragende Thema für die Entscheidung der Briten war die Migration. Schon in den fünfziger und sechziger Jahren hat das Vereinigte Königreich eine Massenimmigration aus überseeischen Gebieten erlebt. Die Premierminister Heath und Thatcher hatten dem Zustrom von noch mehr Menschen damals zwar einen Riegel vorgeschoben. Slums, verkommene Stadtteile, eine Überlastung des Sozialstaates und Lohnkonkurrenz im Bereich der gering Qualifizierten waren dennoch die augenfälligen Folgen. Dass nun auch noch die EU eine Armutswanderung aus anderen EU-Staaten ermöglichte, hat sie in den Augen vieler Briten diskreditiert.

Und dann kamen auch noch die Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten, weil die EU außerstande war, ihre Grenzen zu sichern. Damit lief das Fass über.

Auch das wirtschaftliche Chaos in Europa trug zur Diskreditierung der EU bei. Südeuropa ist durch die inflationäre Kreditblase, die der Euro hervorgerufen hatte, zu teuer geworden und hat seine Wettbewerbsfähigkeit verloren. Die Industrieproduktion ist in wichtigen Ländern noch heute um 20 Prozent oder mehr unter dem Vorkrisenniveau. Die Jugendarbeitslosigkeit führte zu politischem Aufruhr. Manche Staaten und sehr viele Banken stehen am Rande des Konkurses. Nur durch umfangreiche Hilfskredite und unbeschränkte Haftungsversprechen ließen sich die Probleme unterdrücken, gerade lange genug, um den Gläubigern die Flucht zu ermöglichen. Die EU-Ärzte gaben Drogen, weil ihnen für die Operation die Kompetenz oder der Mut fehlte.

Die Briten haften zwar nicht für den Euro, doch haben sie Angst, in das Desaster mit hineingezogen zu werden. Wenn die Deutschen das mitmachen wollen, sollen sie es tun. Man selbst jedenfalls will sich nicht in die Haftungsunion hineinziehen lassen.

Das ist es wohl auch, was alle Prognosen verzerrt hat. Die Unentschlossenen pflegen das Risiko zu meiden und sich für den Status Quo zu entscheiden. Wir alle dachten, der Status Quo sei die EU-Mitgliedschaft. Doch die Briten sahen erstaunlicherweise eher die Splendid Isolation als die bewährte Lebensform, während sie die EU als unkalkulierbares Risiko empfanden.

Ökonomische Vor- und Nachteile

Das Vereinigte Königreich wird nun durch wirtschaftliche und politische Wechselbäder gehen, die manch einen der bislang Entschlossenen wanken lassen werden. Die Abspaltung Nord-Irlands und Schottlands steht im Raum. Es wird eine Kapitalflucht geben, weil die City ihre Funktion als finanzielle Drehscheibe Europas verliert. Schon jetzt erwägt die Deutsche Bank einen Teilrückzug  aus London, und die gemeinsame britisch-deutsche Börse wird ihren Hauptsitz schwerlich in London einnehmen können. In London werden die Immobilienpreise fallen, Finanzinstitute werden in den Konkurs gehen, und das stürmische Wachstum wird ein jähes Ende haben und in eine lang anhaltende Stagnation übergehen. Spiegelbildlich werden Paris, Luxemburg und Frankfurt aufblühen.

Aber es gibt nicht nur Nachteile für die Briten, denn die stürmische Entwicklung der City hatte auch eine Kehrseite. So wurden durch Kapitalimporte zwar die Binnensektoren belebt, doch führte die von diesen Importen verursachte Überbewertung des Pfunds zu einer Deindustrialisierung. Ob ein Land Finanzdienstleistungen, natürliche Ressourcen oder einfach nur Schuldscheine an die Welt verkauft: Stets führt der Zustrom an Kaufkraft zu einem hohen realen Wechselkurs, der die Wettbewerbsfähigkeit des verarbeitenden Gewerbes untergräbt. Die Schweiz, Norwegen, Griechenland und in den siebziger Jahren Holland haben bei aller Unterschiedlichkeit ähnliche Implikationen dieses Wirkungsmechanismus gezeigt.

Wenn nun der Finanzsektor zurückgedrängt wird und die Kapitalimporte aufhören, kommt genau der umgekehrte Effekt zustande. Das Pfund wird abgewertet, der Binnensektor stagniert, und das verarbeitende Gewerbe erholt sich. Auch die gerade wieder neu entstandene Automobilindustrie wird einen neuen Schub bekommen. Das heißt nicht, dass das Land per Saldo vom Brexit profitiert. Doch haben die vielen Menschen in den strukturschwachen ehemaligen Industrieregionen den Vorteil, eben jene, die für den Ausstieg votierten.

In Kontinentaleuropa ist Deutschland der große Verlierer, denn die Briten sind Deutschlands drittgrößte Handelspartner. Einerseits wird Deutschland die britische Konkurrenz beim Export zu spüren bekommen. Andererseits verliert es nun seinen wichtigsten Verbündeten bei der fortwährenden Abwehrschlacht gegenüber den französischen Bestrebungen, mehr staatlichen Dirigismus und weniger Freihandel zu realisieren. Durch den Brexit verliert die Koalition der freihandels- und marktorientierten Länder im Ministerrat ihre Sperrminorität (35 Prozent der Bevölkerung). Die EU droht sich zu Lasten der weltoffenen deutschen Wirtschaft in eine Handelsfestung zu verwandeln. Schon wegen der dramatisch veränderten Bedeutung der Sperrminoritätsklausel muss Deutschland eine Neuverhandlung des Maastrichter Vertrages verlangen. Sonst sitzt es in der Falle.   

Wie die EU reagieren will...

Frankreich und die südeuropäischen Länder möchten die Gunst der Stunde zunächst einmal nutzen und im Trubel der Ausstiegsgespräche so schnell wie möglich weitere Vergemeinschaftungsaktionen durchsetzen. So wollen sie unbedingt die gemeinsame Einlagenversicherung von Bankkunden umsetzen, um die nur noch mit großer Not zu verbergenden Verluste aus der Abschreibung fauler Kredite der Banken Südeuropas zu sozialisieren. Dazu soll der dauerhafte Rettungsschirm ESM im Gegensatz zur gerade vereinbarten Bankenrichtlinie zur direkten Rekapitalisierung der maroden Banken eingesetzt werden. Außerdem soll eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung eingerichtet werden, um die chronische Arbeitslosigkeit Südeuropas durch Dauertransfers vom Norden abzufedern. Sodann will man ein kreditfinanziertes Euro-Budget unter der Kontrolle eines gemeinsamen Finanzministers einrichten, um auf diese Weise möglichst geräuschlos und ohne den Widerstand der Steuerzahler überwinden zu müssen, weitere Gemeinschaftsaufgaben zu finanzieren. Die Steuerzahler kommen später dran, wenn das Geld schon weg ist. Frankreich ist wild entschlossen, Deutschland unter dem Vorwand der schon von Kohl verlangten politischen Union dorthin zu treiben, obwohl eine politische Union zuallererst eine gemeinsame Außenpolitik und eine Zusammenlegung der Streitkräfte verlangen würde.

Die Vergemeinschaftungsaktionen werden die Misere der Eurozone auf ewig zementieren. Diese Misere ist durch die überbordende Verschuldung entstanden, die sich die Südländer nach der Ankündigung des Euro auf dem Gipfel von Madrid im Jahr 1995 leisteten, weil die Gläubiger im Vertrauen auf die implizite Gemeinschaftshaftung im Eurosystem sich mit niedrigen Zinsen zufrieden gaben. Noch mehr Gemeinschaftshaftung wird die Zinsen weiterhin niedrig halten, noch mehr Verschuldung hervorrufen und die zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in Südeuropa nötige reale Abwertung durch Preiszurückhaltung verhindern. Der Pfad in den Schuldensumpf mit endlosen Streitereien ist vorgezeichnet. Die griechischen Verbalattacken auf Deutschland im Jahr 2015 waren nur der Vorbote. Für einen Freund zu haften und ihm mit Krediten zu helfen ist der sicherste Weg, ihn zu verlieren.

Das Beispiel der ersten Jahrzehnte der USA sollte allen eine Warnung sein. Die Schuldensozialisierung, die die USA in den Jahren nach ihrer Gründung betrieb, hatte wegen einer überbordenden Staatsverschuldung eine Wirtschaftsblase hervorgerufen, bei deren Platzen ein Drittel der Staaten in den Konkurs getrieben wurde. Nichts als Hass und Missgunst waren das Ergebnis der gemeinsamen Haftung. Historiker wie Harold James aus Princeton ziehen sogar eine direkte Linie zu dem wenige Jahre später beginnenden Sezessionskrieg.

... und wie die EU reagieren sollte

Damit das alles nicht passiert und nicht auch andere Länder dem Vereinigten Königreich folgen, muss die EU den Brexit-Schock nutzen, um sich selbst grundlegend zu reformieren. Auch dazu müssen die EU-Verträge überarbeitet werden.

Eine sinnvolle Reform würde sicherstellen, dass die EU nur Aufgaben übernimmt, die das sogenannte Pareto-Prinzip berücksichtigen. Nach diesem Prinzip werden nur Maßnahmen ergriffen, die einigen oder allen nützen, ohne irgendjemanden zu schädigen. Freiwilligkeit, starke Minderheitsrechte und geregelte Austrittsoptionen stellen sicher, dass dieses Prinzip weitgehend erfüllt ist.

Eine Implikation des Pareto-Prinzips ist, dass die EU nur wirkliche Gemeinschaftsaufgaben mit grenzüberschreitenden Externalitäten übernimmt, doch Umverteilungsaktivitäten, auch solche, die als Risikoteilung kaschiert werden, unterlässt. Sicher, auch die Umverteilung lässt sich manchmal im Sinne der Versicherung auf Gegenseitigkeit mit dem Pareto-Prinzip begründen, nur dazu bedarf es eines wirklich langfristig bindenden Vertrages zwischen den Staaten Europas, wie er mit der formellen Gründung eines Bundesstaates verbunden ist. Solange ein solcher Bundesstaat nicht zustande kommt, darf es keine Umverteilungsaktivitäten geben, denn solche Aktivitäten werden bei den Benachteiligten stets zu Austrittswünschen führen. Im Übrigen verbietet die extrem unterschiedliche Gewichtung der EU-Bürger bei den Entscheidungsgremien der EU und der EZB jegliche Umverteilungsaktivität.

Die wichtigsten Umverteilungsaktivitäten zwischen den Völkern Europas, die nach dieser Regel einzustellen sind, betreffen die Migrationspolitik und den Euro, die beiden großen Themen, die die Briten von Europa fortgetrieben haben.

Die Briten haben sich besonders darüber geärgert, dass sie die Binnenwanderung von Armutsflüchtlingen aus anderen EU-Ländern hinnehmen mussten. Diese Wanderung ist großenteils durch das sogenannte Inklusionsprinzip verursacht worden, das die nordeuropäischen Sozialstaaten und auch Großbritannien zu Magneten für gering qualifizierte Bevölkerungsgruppen gemacht hat. Nach diesem Prinzip werden die Zuwanderer nach sehr kurzen Warteperioden rasch in das Sozialsystem des Gastlandes integriert und erhalten dort steuerfinanzierte Sozialleistungen wie Einheimische auch.

Das Heimatlandprinzip

Die bessere Alternative ist das Heimatlandprinzip. Danach ist stets nur das Heimatland für steuerfinanzierte Sozialleistungen zuständig, doch die Empfänger dürfen diese Leistungen im Falle der Auswanderung mitnehmen. Im Zielland dürfen sie nicht die Hand aufhalten. Dort erhalten sie nur die beitragsfinanzierten Leistungen, die sie sich selbst erarbeitet haben. Beitragsfinanzierte Leistungen kann man ebenfalls mitnehmen, wenn man wieder fortzieht.

Nur das Heimatlandprinzip ist mit einer Fortexistenz der Sozialstaaten bei uneingeschränkter Freizügigkeit kompatibel, und nur dieses Prinzip stellt sicher, dass die Wanderungen zu einem Wohlfahrtsgewinn für alle betroffenen Länder führen, insofern also dem Pareto-Prinzip genügen.

Keine Selbsthilfe mit der Druckerpresse

Zum anderen muss das Euro-System nun dringend reformiert werden, um das Haftungsrisiko der Teilnehmerländer zu verringern und sie davor zu schützen, im gemeinsamen Schuldensumpf unterzugehen. Leider lässt das deutsche Verfassungsgericht der EZB nun weitgehend freie Hand bei ihren geldpolitisch kaschierten, in Wahrheit aber fiskalischen Rettungsaktionen. Wenn die Politik keine neuen Schranken setzt, besteht die Gefahr, dass der EZB-Rat, in dem Deutschland laufend überstimmt wird, das gesamte Geldschöpfungsvermögen in Höhe von mehreren Billionen Euro für die Rettungsaktionen aufs Spiel setzt.

Dass das die gemeinsame Währung nicht wert ist, werden die Wähler der Politik irgendwann schon klar machen, spätestens in fünfzehn Jahren, wenn die Baby-Boomer, die heute fünfzig sind, eine Rente von Kindern wollen, die sie nicht haben. Die absehbaren Finanzprobleme des deutschen Staates könnten mit dem Aufbrechen der Haftungsrisiken aus den Rettungsschirmen und aus den ausufernden Rettungsmaßnahmen der EZB zusammenfallen und dann eine nicht mehr beherrschbare Gemengelage erzeugen. Der politische Klärungsprozess wird zwar spät kommen, doch wird er eruptiv und wenig versöhnlich verlaufen.

Der Euro ist grundsätzlich nützlich für Europa, doch die Kredite aus der elektronischen Druckerpresse müssen aufhören. Die EZB darf keine Staatspapiere von Gliedstaaten des Eurosystems mehr kaufen, denn das verleitet zur Überschuldung. Auch die Fed in den USA kauft keine Papiere von Gliedstaaten. Es geht auch nicht an, dass sich die einzelnen Länder der Eurozone das Geld drucken, das sie sich nicht mehr leihen können, und auf diese Weise das Kreditgeld der anderen Notenbanken zurückdrängen. Es ist und bleibt ein Skandal, dass man sich über die ELA-Notkredite, die geheimen Anfa-Kredite und die Herabsenkung der Sicherheitsstandards für Pfänder von Refinanzierungskrediten fast beliebige Geldsummen aus dem gemeinsamen Kassenautomaten holen kann, ohne dass man die entsprechenden Target-Schulden tilgen muss. Die Target-Forderungen der Bundesbank, die das Spiegelbild der elektronischen Sonder-Geldschöpfung der Krisenländer sind, bewegen sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, schon wieder in Richtung 700 Milliarden Euro. Eine Tilgung der Target-Schulden mit marktgängigen Vermögenswerten wie zwischen den Distrikt-Zentralbanken der USA, am besten mit Gold wie dort bis 1975 praktiziert, würde der Selbstbedienung mit der Druckerpresse einen Riegel vorschieben.

Länder, die es mit dem Euro ernst meinen, werden nach einer solchen Reform im Eurosystem bleiben, doch wer nur deshalb mitmacht, weil er sich in diesem System das Geld zum Leben und Erwerb ausländischer Vermögenswerte drucken kann, der wird es verlassen, und das ist gut so. Das Eurosystem muss zu einer atmenden Währungsunion umgebaut werden, aus der man auch geregelt wieder austreten kann. Sonst wird es immer mehr zum Selbstbedienungsladen verkommen.

Die atmende Währungsunion

Die atmende Währungsunion ist ein Gebilde zwischen dem Dollar und dem Festkurssystem von Bretton Woods, das in der Nachkriegszeit herrschte. Sie vermeidet die laufende Wechselkurs-Unsicherheit, wie sie mit unterschiedlichen Währungen verbunden ist. Doch sie zwingt Länder, die in der Währungsunion zu teuer geworden sind, auch nicht in eine viele Jahre währende Krise hinein, während derer eine dauerhafte Austeritätspolitik die Nerven der Bevölkerung strapaziert, die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander aufbringt und die Gesellschaft zerrüttet. Umgekehrt verhindert sie, dass die nicht mehr wettbewerbsfähigen Länder von den Haushalten anderer Länder mitfinanziert werden müssen oder diesen Haushalten unwägbare Haftungsrisiken auferlegen.

Da man nach dem Austritt einen späteren Wiedereintritt zu einem neuen Wechselkurs nicht ausschließen kann, kommt das einem Hospitalsaufenthalt gleich. Man zieht sich zurück, wird geheilt und macht dann wieder mit. Die Eurozone braucht dringend klare Regeln, nach denen ein solcher Austritt geordnet ermöglicht wird.

Im Zusammenhang damit sind auch Konkursregeln für Staaten vorzusehen, die das Prozedere im Falle einer Überschuldung klarlegen und die Lasten des Konkurses vorhersehbar auf die Gläubiger verteilen. Diese Regeln und die Antizipation der Konkursgefahr sind die Grundvoraussetzung dafür, dass die Gläubiger im Vorhinein nicht zu viel Kredit geben und dass es gar nicht erst zu inflationären Kreditblasen kommen kann, die die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder zerstören. So paradox es klingen mag: Gerade die Konkursregeln werden den Weg in den Schuldensumpf verhindern und Konkurse vermeiden. Auch hier hilft ein Blick über den Atlantik. Erst nachdem man im Anschluss an den Sezessionskrieg den Konkurs von Gliedstaaten eingeplant und die Schuldensozialisierung beendet hatte, gelang es den USA, sich zu einer stabilen Föderation zu entwickeln.

Vielleicht ist in der EU heute das Kind schon in den Brunnen gefallen, weil die Schulden einzelner Staaten bereits zu hoch sind. Wenn es so ist, müssen die Anfangsbedingungen für ein solches besseres Regime durch ein Schuldenmoratorium hergestellt werden, bei dem die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass das Ganze dann nicht wieder von vorne losgeht. Dazu muss das jeweilige Krisenland bereit sein, den Euro zur Wiederherstellung seiner Wettbewerbsfähigkeit temporär zu verlassen.

Echte Gemeinschaftsaufgaben

Es ist nun an der Zeit, dass die EU sich den echten Gemeinschaftsaufgaben widmet, die für alle EU-Bürger einen sichtbaren Mehrwert bringen. Dazu gehört an allererster Stelle eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, denn die Sicherheit ist nicht zwischen den Ländern teilbar. Der Versuch, eine solche Politik zu etablieren, war bereits 1954 mit der Westeuropäischen Verteidigungsunion weit gediehen, doch scheiterte er damals am Votum der französischen Nationalversammlung. Es ist höchste Zeit, das lange Versäumte nachzuholen, denn es ist ein Anachronismus, dass 28 EU-Länder über 25 separate Armeen mit 25 Oberkommandos verfügen, auch wenn die meisten über die Nato locker miteinander verbunden sind. So wie die Staaten der USA innerhalb der Nato über eine gemeinsame Armee verfügen, sollten es auch die Staaten der EU handhaben.

Wenn das zu ambitioniert ist, sollte Europa nun wenigstens über eine wirklich schlagkräftige und mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattete Frontex-Truppe verfügen, um die Grenzen gegenüber Wirtschaftsmigranten zu schützen, bevor die Lawine der Massenzuwanderungen aus Drittstaaten so viel Dynamik gewonnen hat, dass sie sich nicht mehr stoppen lässt. Die Mitgliedschaft in der EU ist ein Eigentumsrecht an den gemeinsamen Klubgütern. Wer glaubt, es gebe ein Menschheitsrecht bei der Wahl des Landes, in dem er leben möchte, hat nicht verstanden, dass Eigentumsrechte die Grundvoraussetzung für das friedliche Zusammenleben der Menschen sind und dass nur sie eine Pareto-verbessernde, also allseits Nutzen stiftende Zuwanderung ermöglichen. Wer das mit der EU-Bürgerschaft verbundene Eigentumsrecht an den öffentlichen Gütern der Gemeinschaft zur Disposition stellt, etwa indem er Maßnahmen zum Schutz der Grenzen verteufelt, sägt an den Grundfesten der EU, denn das würde Eruptionen hervorrufen, im Vergleich zu denen der Brexit harmlos ist.

Es ist unerträglich, dass heute kriminelle Banden darüber entscheiden, wer nach Europa einwandern kann und wer nicht. Wer illegal kommt, muss sofort zurück gebracht werden, bevor sich seine Spur verliert und er nicht mehr zurückgewiesen werden kann. Er kann dann vom Ausland aus Asyl in der Eurozone beantragen oder über ein Punktesystem Einlass begehren. Spanien, Kanada, die Schweiz, die USA und Australien zeigen, wie es gehen kann. Hot Spots in Afrika sollten Teil der Lösungen sein.

Weitere Gemeinschaftsaufgaben liegen offenkundig in den grenzüberschreitenden Verkehrswegen für Menschen, Güter, Energie und Daten. Hier ist die EU aber schon aktiv, und das ist gut so. Der einheitliche europäische Energiemarkt mit gleichen Preisen für die verschiedenen Energieformen in allen Ländern ist die Voraussetzung für eine effiziente, kostenminimale Koordination der Anstrengungen zur Energieeinsparung. Hierfür ist das EU-Budget besser verwendet als für die Subventionierung des Agrarmarktes, der nun endlich dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt werden sollte. Ferner hat die EU eine unbestrittene Kompetenz im Umweltbereich, sofern die Umweltschäden grenzüberschreitenden Charakter haben, wie es bei Klimagasen der Fall ist. Die Definition von Normen, Mindeststandards und Qualitätskategorien zur besseren Orientierung der Verbraucher sind bei handelbaren Massenprodukten ebenfalls eine unbestreitbare Domäne der EU, weil deren Einheitlichkeit die länderübergreifende Konkurrenz verbessert.

Bei den Entscheidungsstrukturen der EU sollte man sich an den Plan des ehemaligen Außenministers Joschka Fischer erinnern, ein Zwei-Kammern-System mit einer proportionalen Repräsentanz der Bevölkerung im Parlament und einer Repräsentanz der Länder im Senat einzurichten. Wenn die Entscheidungen dieser Kammern auf Bereiche ohne umverteilenden Charakter beschränkt werden, sind Ministerrat und EU-Gipfel entbehrlich.

Die genannten Themen sind ernst, zu ernst, als dass man die bisweilen hohlen Sprüche aus Brüssel weiterhin ertragen kann. Gebraucht werden neue, ernsthafte Politikerpersönlichkeiten, die die Visionen von Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer, Alcide de Gaspari oder Robert Schumann glaubhaft in die heutige Zeit projizieren können, denn es gibt keine Alternative zu Europa.

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