Manche empfinden die Wahrheit als provokant

Sie ist seine engste Vertraute, schreibt Hans-Werner Sinn über seine Frau. Jetzt erscheinen die Memoiren des Ökonomen. Ein gemeinsames Gespräch über Männerdominanz, Nutzenmaximierung in der Ehe und den Bart des Propheten.
Hans-Werner Sinn

Handelsblatt, 16.02.2018

Gerlinde Sinn hofft, dass ihr Mann sein Arbeitszimmer aufgeräumt hat. Hat er, zumindest türmen sich dort keine Bücher. Beim Fotoshooting im Garten der Sinns im beschaulichen Münchener Vorort Gauting lässt sie ihn nicht aus den Augen, korrigiert seine Haltung. Wenn es nach einer seiner Analysen mal wieder Kritik hagelt, ist sie, ebenfalls Ökonomin, die erste Ansprechpartnerin. Sie ist Vertraute und manchmal auch ein wenig Korrektiv von Hans-Werner Sinn, Deutschlands wohl bekanntestem und streitbarstem Volkswirt. Auch sein Bart, der im Übrigen nichts mit Captain Ahab zu tun hat, geht auf ihr Konto. Im März feiert der ehemalige Chef des Ifo-Instituts seinen 70. Geburtstag. Kommende Woche erscheint seine Autobiografie - natürlich hat Gerlinde Sinn sie mitredigiert.

Frau Sinn, wie finden Sie die Autobiografie Ihres Mannes?

Gerlinde Sinn (GS): Ich war zunächst skeptisch. Ich dachte, mit knapp 70 Jahren auf ein Leben zurückzublicken ist zu früh. Als ob es dann schon vorbei wäre. Das hat mich etwas geängstigt. Doch nun finde ich sie sehr gelungen.

Warum haben Sie nach dem 1991 erschienen Buch „Kaltstart“, das die ökonomischen Probleme der deutschen Wiedervereinigung beschreibt, nicht weiter gemeinsam publiziert?

GS: Das haben wir, in gemeinsamen wissenschaftliche Texten und Zeitungsartikeln. Es passte mir am Ende besser, eigene Wege zu gehen. Mein Mann war klarer auf die Ökonomie fokussiert als ich.

Sie haben sich ja auch um die Kinder gekümmert.

GS: Das stimmt. Parallel habe ich vieles nebenher gemacht, etwa ehrenamtlich Lehrer an der Ludwig-MaximiliansUniversität in Volkswirtschaftslehre ausgebildet. Geholfen, den ersten volkswirtschaftlichen Alumni-Klub in Deutschland aufzubauen, oder mich um die Gäste am internationalen Gastforscherzentrum CES in München gekümmert, das mein Mann gegründet hat. Wir haben uns wechselseitig unterstützt.

Einer Forscherkarriere, ähnlich wie Ihr Mann sie gemacht hat, konnten Sie nicht nachgehen.

GS: Jeder hat nach Kräften zum gemeinsamen Lebensweg beigetragen. Wir hatten zwar zu Beginn eine Kinderfrau, doch fühlte ich mich zerrissen. Es gab damals auch nicht die heutigen Betreuungsangebote. Ich dachte, bevor es zu Hause schiefläuft, teilen wir uns auf. Arbeitsteilung und Spezialisierung sind meiner Meinung nach sinnvolle Reaktionen auf die Herausforderungen des Lebens. Jeder, der glaubt, auch anders verantwortlich drei Kinder großziehen zu können, möge es tun. Wir wählten damals diesen Weg.

Das hätte doch auch andersherum funktionie ren können. Warum haben Sie sich nicht auch zeitweise um die Kinder gekümmert, Herr Sinn?

GS: Ihre Unterstellung ist falsch. Mein Mann hat sich stets liebevoll um die Kinder gekümmert.

Hans-Werner Sinn (HWS): Aber nicht so intensiv wie meine Frau, das ist wahr. Die extreme Belastung einer wissenschaftlichen Karriere nebst Habilitation mit der symmetrischen Beteiligung im Haushalt zu verbinden hätte mehr Kraft verlangt, als wir hatten. Ich hätte die hohen Hürden der wissenschaftlichen Karriere in Teilzeit nicht nehmen können. Pro frei werdenden Lehrstuhl gab es damals zwölf Habilitanden. Der Wettbewerb war extrem.

Hand aufs Herz, Frau Sinn: Hat das nicht auch mal wehgetan, die Karriere aufzugeben?

GS: Nicht wirklich. Ich habe von der Karriere meines Mannes profitiert. Ich war viel mit ihm unterwegs, konnte Gespräche führen und Menschen kennen lernen, die ich mit einer mittelmäßigen, weil weniger energisch verfolgten Karriere, so nicht getroffen hätte. Vor allem haben wir auf unserem Weg drei großartige Kinder großgezogen, die uns Halt, Freude und Kraft geben.

Herr Sinn, in Ihrer Autobiografie finden sich viele Gelehrte, Politiker, Kommilitonen, mit denen Sie auf die ein oder andere Art zu tun hatten. Das sind überwiegend Männer. Wie kommt das?

HWS: Die Welt, in der ich mich bewegte, war von Männern dominiert. Dennoch gibt es eine Reihe von Frauen, über die ich berichte, so über meine Münchener Fakultätskolleginnen, meine Schülerinnen Rajshri Jayaraman und Silke Übelmesser, die heute Lehrstühle bekleiden, und viele mehr.

Wie war das für Sie, als eine von wenigen Frauen in einer absoluten Männerdomäne zu studieren, Frau Sinn?

GS: Es gab schon viele Vorurteile gegenüber uns Frauen. Für mich war es daher immer ein Triumph, wenn die Männer sich erst groß präsentiert haben, dafür dann in den Klausuren schlechter abschnitten. Aber gelitten habe ich darunter auch nicht, ich bin meinen Weg gegangen.

Ihr Mann schreibt, er suche zuerst Ihren Rat, wenn er mal wieder als „marktradikal“ attackiert wird. Bremsen Sie ihn manchmal?

GS: Natürlich unterscheiden sich Menschen darin, wie sie Dinge formulieren würden. Manches kommt bei anderen nicht so an, wie es mein Mann gesagt hat. Er denkt sehr klar und formuliert auch so. Das ist seine Stärke.

HWS: Manche empfinden auch die Wahrheit als provokant.

Solange Dinge dann wahr sind, wenn Sie von Ihnen kommen, ist das sicher so.

HWS: Die Wahrheit ist die Wahrheit. Ich nenne Fakten. Wenn sie nicht stimmen, kann man mich widerlegen, und ich bin bereit zu lernen.

Wenn es so einfach wäre, Wahrheit zu erfassen, wieso kommen Ökonomen oft zu so unterschiedlichen Ergebnissen?

HWS: Die ökonomische Wahrheit bezieht sich immer nur auf einzelne Wirkungsketten. Die sind entweder wahr oder falsch dargestellt. Seriöse Ökonomen können sich darauf auch einigen. Sie können immer noch unterschiedlicher Meinung sein, wenn es um die Bewertung eines Gesamtpakets aus verschiedenen Wirkungsketten geht.

Nun gibt es Menschen, die die Welt nicht in Wirkungsketten beschreiben. Wenn Sie deren Lebenswirklichkeit unberücksichtigt lassen, bleiben Sie in deren Augen der neoliberale Eiswürfel.

HWS: Ist das so? Ich versuche zumindest, die Lebenswirklichkeit abzubilden.

Sie beschreiben, wie sehr Sie das Studium, aber auch die Schule fasziniert hat. Das liest sich alles so zielstrebig und fleißig. Haben Sie als Studenten nicht auch mal gefaulenzt?

GS: Ein Kapitel des Buchs beschäftigt sich mit unseren vielen Reisen. Es gab Müßiggang genug.

HWS: Auch beschreibe ich, wie ich ein Jahr lang mit einem jordanischen Studienfreund zusammenwohnte. Eine Zeit, in der die Nacht zum Tage wurde und wir über Gott und die Welt diskutierten, während wir in der Küche arabische Gerichte zubereiteten. Dieses Leben war dem Studium nicht förderlich. Ein Glück, dass ich meine Frau kennen lernte, die mich wieder auf Kurs brachte. Auch später gab es hin und wieder Leerlauf. Aber ein Homo ludens war ich nie. Dazu musste ich während der Schulzeit und des Studiums zu viel für meinen Vater arbeiten. Ausschweifungen im Sinne von Drogen oder übermä- ßig viel Alkohol gab es bei uns auch nicht. Die 68er-Generation war ohnehin viel braver, als man meint. Zumindest in Münster, wo wir studierten. Wir haben uns als Linke sogar gesiezt.

Im Rückblick schwer zu glauben, dass Sie mal ein Linker waren.

HWS: Ich habe mich in meiner Jugend bei den Falken, der sozialistischen Jugend Deutschlands, engagiert. Wir hatten wunderschöne Zeltlager und führten viele politische Diskussionen. Dabei habe ich viel über die deutsche Geschichte gelernt und meine Präferenz für eine gerechte Gesellschaft entwickelt. Mit 18 Jahren bin ich damals in die SPD eingetreten, war dort aber nur kurz, bis das Studium begann. Dafür war ich in den ersten Semestern im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB). Ich habe Willy Brandt sehr verehrt und finde noch heute, dass er eine richtige und wichtige Politik durchgesetzt hat. Seine Politik des Wandels durch Annäherung hat zur Anerkennung Deutschlands in der Welt und zum Untergang der DDR beigetragen.

Ist Ihr Bart der Versuch, sich von solchen Strömungen abzugrenzen? Sie wirken wie ein Vorzeigekapitalist calvinistischer Prägung.

GS: Das ist eine Schifferkrause, wie sie auch Abraham Lincoln trug. Der Bart, den mein Mann schon im Studium trug, geht auf mein Konto.

HWS: Für mich ist er eher ein Relikt aus meiner linken Zeit. Heute könnte ich ja sogar als Hippster durchgehen. Wäre das nicht eine schöne Konzession an den Zeitgeist?

Herr Sinn, Sie sehen sich als Berater des Volks, nicht der Politiker. Die seien aus Widerwahlanreizen nicht an einer nachhaltigen Politik interessiert. Würden die Menschen unpopuläre Forderungen wie die nach mehr „Lohnspreizung“ leichter verdauen, wenn sie die mit mehr Einfühlungsvermögen begleiten würden?

HWS: Ich wollte Lohnzuschüsse, damit aus der Lohnspreizung, die für neue Stellen erforderlich war, keine Einkommensspreizung wird. Mein Konzept der „Aktivierenden Sozialhilfe“, die auf die Agenda 2010 Einfluss nahm, zielte auf die Verbesserung der Lage der kleinen Leute, denen ich mich verbunden fühle, weil ich selbst aus einem armen Elternhaus komme. Ich versuchte, eine funktionierende Sozialpolitik zu definieren, die die Ausgrenzung der weniger leistungsfähigen Menschen aus der Arbeitswelt vermeidet, ohne emotional zu werden.

Was ist so schlimm an Emotionen?

HWS: Als Wissenschaftler will ich mit Argumenten statt Moralappellen Gehör finden. Ich setze auf den rationalen Diskurs. Mein Credo zum Niedriglohnsektor ist: „Wer arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben.“

Das klingt ja doch nach Empathie.

HWS: Da sehen Sie mal.

Weshalb werden Ihre Argumente dennoch aus Ihrer Sicht zuweilen verzerrt wahrgenommen?

HWS: Ich kritisiere den Weg zu sozialem Frieden, den viele Politiker proklamieren, weil er eben nicht zum erhofften Ziel einer gerechteren Gesellschaft führt. Ich kritisiere also die Instrumente statt der Ziele der Politik. Die kritisierten Politiker unterstellen mir gern andere Ziele, um sich den Argumenten nicht stellen zu müssen.

Wie sehen Sie das, Frau Sinn?

GS: Ich stimme meinem Mann zu 95 Prozent zu. Viele übernehmen einfach die Bewertung bestimmter politischer Meinungsführer, statt seine Texte selbst zu lesen, und die bleibt dann haften. Und zu den fünf Prozent, HansWerner: Beim alten Arbeitslosengeld hast du immer gesagt, es sei besser, „staatliches Geld fürs Mitmachen statt fürs Nichtstun zu geben“. Damit hast du zwar recht, aber es klingt für manche sehr barsch. Der ein oder andere mag sich gar verletzt fühlen.

HWS: Moralische Vorwürfe liegen mir fern. Mein Argument war immer, dass Lohnersatzleistungen, also Geld, das man unter der Bedingung der Nicht-Arbeit bekommt, einen Mindestlohn implizieren, weil die Unternehmer diese Leistungen überbieten müssen. Sie vernichten arbeitsintensive Geschäftsmodelle und schaden damit denjenigen, denen man eigentlich helfen will.

Schön und gut, doch warum holen Sie die Menschen nicht stärker in Ihrem Kontext ab?

HWS: Das müssen die Politiker machen. Politiker bespielen die Violine der Empathie. Ein Wissenschaftler macht sich unglaubwürdig, wenn er gefühlsbeladen redet und Argumente durch wohlklingende Worte ersetzt. Mir geht es um wissenschaftliche Wahrheit.

Die ist manchmal viel komplexer, als Sie sie darstellen. Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass NGO-Schiffe Flüchtlinge dazu verleiten, die Fahrt von Libyen über das Mittelmeer zu wagen. Und damit Menschenschleppern in die Hände spielen oder noch mehr Opfer produzieren.

HWS: Das ist ein treffendes Beispiel für den Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, wie ihn Max Weber definierte. Diese NGOs sind gesinnungsethisch unterwegs. Ob sie verantwortungsethisch agieren, kann man diskutieren. Denn sie schaffen Anreize für Schlepper, immer mehr Boote ins Meer zu schubsen, was zur Folge haben kann, dass trotz der Rettungsaktionen per Saldo mehr Menschen ertrinken.

Zwei aktuelle Studien, unter anderem eine der Universität Oxford, gelangen zu einem anderen Schluss. Sie zeigen, dass das Fernbleiben von Rettungsschiffen nichts an dem Zustrom verändert, sondern nur zu mehr Toten führt.

HWS: Die IOM, die Internationale Organisation für Migration, berichtet anderes. Seit Italiens Innenminister Marco Minniti dafür gesorgt hat, dass statt der NGOs die Libyer selbst die Wirtschaftsmigranten abfangen und dass die Stämme am Südrand der Sahara die Migranten gar nicht erst durchlassen, ist die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer dramatisch gesunken. Von 2016 auf 2017 betrug der Rückgang etwa ein Drittel.

Vielleicht sinkt die Zahl der Toten im Mittelmeer. Was Italien und die EU aber gern verschweigen: Libyens Küstenwache bringt diese Menschen in Internierungslager, wo sie laut diverser UN-Berichte gefoltert, vergewaltigt oder als Sklaven verkauft werden. Die deutsche Botschaft in Niger sprach gar von KZ-ähnlichen Verhältnissen in diesen Lagern.

HWS: Was die Medien berichten, ist schrecklich und bedarf ebenfalls einer energischen Politik der EU. Auch hier lohnt sich aber ein Blick auf die Fakten. Von 2016 auf 2017 ging nach Informationen der IOM auch die Zahl der Todesfälle unter den Migranten in Nordafrika dramatisch zurück, nämlich um etwa 60 Prozent. Das spricht schon für die Überlegenheit der Strategie Minnitis.

Sie haben im Laufe Ihrer Karriere viel Ruhm erfahren, aber auch Kritik. Welche hat Sie besonders getroffen?

HWS: Die zu meinem Judenvergleich. Die darauf folgende Diskussion hat mich getroffen, weil sie sich von den Fakten löste, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ich hatte die ungerechtfertigte Kritik an den Juden im Krisenjahr 1929 mit der Managerschelte während der Finanzkrise 2008 verglichen, aber der Zentralrat der Juden unterstellte mir, ich hätte sagen wollen, die Manager würden so verfolgt, wie die Juden durch die Nazis verfolgt wurden. Dabei habe ich weder von einer Verfolgung noch von den Nazis gesprochen. Und ich habe mich auf ein Jahr bezogen, das vier Jahre vor der Machtergreifung der Nazis lag. Ich habe mich bei Charlotte Knobloch, der damaligen Präsidentin des Zentralrats, dennoch sofort entschuldigt, denn ich wollte unter keinen Umständen in einen Konflikt mit der jüdischen Gemeinde kommen. Frau Knobloch, die ich schon vorher kennen und schätzen gelernt hatte, nahm die Entschuldigung umgehend an. Einige jüdische Kollegen aus dem In- und Ausland haben den Zentralrat anschließend kritisiert undvon ihm eine Entschuldigung bei mir verlangt. Ich schließe mich dieser Forderung nicht an und halte meine eigene Entschuldigung aufrecht.

Ist das nicht ein Beispiel für den Kontext, von dem wir vorher sprachen? Könnte mehr Sensibilität Missverständnissen vorbeugen und helfen, als „Berater der Volkes“ mehr Menschen zu erreichen?

HWS: (Lange Pause). Ja, das mag sein. Aber es bedürfte dann auch eines anderen, vielleicht weniger kantigen Naturells, als ich es habe.

Danke für das Gespräch, Frau und Herr Sinn.

Die Fragen stellte Anna Gauto.

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