Frau Merkel muss ihre Meinung ändern

Deutschlands bekanntester Ökonom, Hans-Werner Sinn, hält nichts von der Gleichsetzung offener Gesellschaften mit offenen Grenzen
Hans-Werner Sinn

Neue Zürcher Zeitung, 19.03.2016, S. 33.

Der Ökonom Hans-Werner Sinn bleibt auch in seinem letzten Interview als Ifo-Präsident provokant. Einem Deal mit der Türkei in der Flüchtlingspolitik traut er nicht. Der EU will er mit einer gemeinsamen Armee neues Leben einhauchen.

Herr Professor Sinn, Sie haben berechnet, dass die bisherige Migration die deutschen Sozialwerke und den Staat nicht entlastet, sondern belastet. Haben Sie der Alternative für Deutschland (AfD) Wahlkampfhilfe geleistet?

Ich glaube nicht, denn ich hatte und habe keinerlei Kontakt zur AfD. Ich gehöre gar keiner Partei an.

Wie erklären Sie das starke Abschneiden der AfD in den drei Landtagswahlen?

Ich sehe das aus einer neutralen Warte. Wenn die Regierung eine Politik macht, die den Leuten nicht gefällt, gibt es eben Gegenwind durch neue Parteien.

Was hat die Regierung denn versäumt?

Kanzlerin Merkel hat die CDU über die Jahre hinweg auf die SPD-Position geführt: Jede Bewegung führte nach links, weil sie dort die Stimmen vermutete. Auch im grünen Lager wilderte sie, wie der Beschluss zum raschen Atomausstieg zeigt. Unter Merkel wurden der Mindestlohn und die Rente mit 63 eingeführt, damit die SPD diese Themen nicht mehr bewirtschaften kann. Merkel hat aber den gesunden Menschenverstand der Wähler unterschätzt. Diese sehen die Probleme.

Entspricht Merkels Verhalten nicht genau dem, was Ökonomen erwarten würden, nämlich der Orientierung am Medianwähler, also dem Wähler in der Mitte, der matchentscheidend ist?

Das ist richtig. Ein Medianwählermodell führt zur Annäherung der Parteien, falls es nur zwei hat. Aber es passiert noch etwas anderes: Wenn sich zwei grosse Parteien um die Mitte scharen, dann können an den Rändern neue Parteien entstehen. Das ist Schröder passiert mit der Partei Die Linke, und das passiert jetzt Merkel mit der AfD.

Was sollte die Regierung jetzt tun?

Frau Merkel muss ihre Meinung ändern, weil ihre Politik nicht durchzuhalten ist. Sie muss sich nach dem deutschen Grundgesetz richten. Asyl erhält demnach nur, wer nicht über ein sicheres Drittland einreist und von einem Staat politisch verfolgt wird. Nach dem Grundgesetz sind 2015 aber nur 0,7% der abschliessend bearbeiteten Gesuche anerkannt worden. 48% der Antragsteller wurden pauschal und häufig ohne Beweis der Nationalität nach der Genfer Flüchtlingskonvention akzeptiert.

Also muss man die Nachbarländer, besonders die Türkei, unterstützen?

Der Türkei den Schlüssel für das Tor zu Europa in die Hand zu geben, macht uns erpressbar. Den Schleppern würde zwar das Handwerk gelegt, wenn die Türkei bedingungslos alle Flüchtlinge zurücknähme, die über die Ägäis geflohen sind. Doch wenn die Beitrittsverhandlungen mit der EU stocken, braucht die Türkei nur wieder neue Flüchtlinge durchzulassen, und schon geht es weiter. Es führt kein Weg daran vorbei, die Grenzen von Europa selber zu sichern.

Damit nehmen Sie aber in Kauf, dass Tausende an den Grenzen stranden.

Man kann angesichts der Einkommensunterschiede in der Welt nicht alle Menschen aufnehmen, die kommen wollen. Man sollte akzeptieren, dass die hier lebenden Menschen Eigentum an den öffentlichen Gütern ihres Staates haben. Ich denke an die Infrastruktur, den freien Zugang zu Behörden, zum Rechtssystem, zur Polizei, zum Bildungswesen. Eine Gesellschaft ohne Eigentumsrechte kann nicht funktionieren. Viele tun so, als verlange eine offene Gesellschaft offene Grenzen. Das ist pure Semantik, die im Kern unsinnig ist. Nur wenn Grenzen kontrolliert und Eigentumsrechte am staatlichen Vermögen gesichert sind, ist ein friedliches Zusammenleben der Völker möglich.

Sollte es nicht jedem Menschen erlaubt sein, sein Glück anderswo zu versuchen?

Sie können einem liberalen Ökonomen doch nicht weismachen, dass die Abschaffung von Eigentum und von Zäunen zum Schutz desselben irgendetwas mit Liberalität zu tun hat. Genau das Gegenteil ist der Fall: Wohldefinierte Eigentumsrechte sind die Grundvoraussetzung dafür, dass eine Marktwirtschaft und liberale Ordnung möglich sind.

Nun schliesst die AfD besonders in Ostdeutschland gut ab. Woran liegt das?

In Ostdeutschland haben wir immer noch keine funktionierende Wirtschaft. Die Beschäftigung in der Industrie ist von über 4 Mio. in der DDR auf 900 000 zurückgegangen. Wenn die Migranten in den Arbeitsmarkt drängen, sind sie besonders in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit eine Konkurrenz für die Einheimischen. Insofern ist es verständlich, dass die Ostdeutschen hier mehr Sorgen haben als die Westdeutschen.

Aber der Lebensstandard in West und jener in Ost haben sich doch angeglichen?

Ja, dieser liegt in Ostdeutschland bei 90% des West-Niveaus. Aber es ist eben nicht nur selbstverdientes Geld. Deutschland ist eine Transferunion, in der über den Staatshaushalt und die Sozialbudgets sehr viele Ressourcen in den Osten fliessen. Die private Wirtschaftsleistung je Kopf auf dem Gebiet der ehemaligen DDR liegt erst bei 61% des westdeutschen.

Was kann man denn tun, damit sich diese Lücke weiter schliesst?

Man kann Lohnflexibilität herstellen. Mit der Einführung des Mindestlohns hat man aber genau das Gegenteil getan. Dies erschwert die weitere Konvergenz.

Ihr Ifo-Institut hat in einer Pressemitteilung vor zwei Jahren geschrieben, dass der Mindestlohn 900 000 Stellen gefährde. Davon sieht man bis jetzt nichts.

Es handelte sich um eine langfristige Prognose über mindestens ein halbes Jahrzehnt. Kurzfristig, nämlich für 2015, hatten wir insgesamt einen Stellenzuwachs, bei den Mini-Jobs aber einen Rückgang prognostiziert. Letzterer war in der Realität noch etwas stärker. Wir hatten berücksichtigt, dass kurzfristig ein Mindestlohn günstige Effekte auf den Arbeitsmarkt haben kann, weil er das Einkommen erhöht und so zusätzliche Nachfrage schafft. Man kann aber die negativen Effekte nicht in einer Hochkonjunktur sehen, sondern nur im Abschwung. Im Übrigen kam gerade eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle heraus, die besagt, dass der Mindestlohn zu einer deutlichen Verkürzung der Arbeitszeit geführt hat.

Nun hat Deutschland diesen Mindestlohn. Wie kann man die Flüchtlinge denn in den Arbeitsmarkt integrieren?

Wenn wir die Flüchtlinge beschäftigen und den Mindestlohn beibehalten wollen, dann geht das nur über Zuschüsse an die Arbeitgeber. Dafür würde ich aber nicht plädieren. Vielmehr empfehle ich eine Karenzzeit für Flüchtlinge und Einheimische: Wenn jemand erstmals eine Stelle antritt, sollte für eine gewisse Zeit der Mindestlohn nicht gelten.

Ein zweites Thema, das in Deutschland polarisiert, sind die Verhandlungen über ein Freihandels- und Investitionsabkommen (TTIP) mit den USA. Weshalb sind die Deutschen so gegen TTIP?

Unser Institut hat berechnet, dass TTIP per saldo für Deutschland den Wohlstand steigert. Wir sollten aber die Probleme von TTIP nicht verschweigen. TTIP führt zu einer gemeinschaftlichen EU-Haftung für die Verfehlungen einzelner EU-Staaten, und die Schiedsgerichte könnten für den europäischen Mittelstand prohibitiv teuer werden. Hier muss man nachbessern.

Sie warnen seit langem vor einem «race to the bottom» durch die Globalisierung, also der Erosion von Standards und Regulierungen. Haben Sie da nicht übertrieben?

Nein. Denken Sie doch an die Deregulierung des Bankensystems. Jeder Staat hat seine Banken grosszügig behandelt, um sie am Standort zu halten. Dies hat zur Finanzkrise beigetragen, weil die Banken kaum noch Eigenkapital in den Bilanzen hatten.

Empfehlen Sie denn internationale Mindeststandards?

Im Prinzip verlangt der freie Kapitalverkehr gewisse Untergrenzen für die Steuern, damit es nicht zur Erosion der Staatseinnahmen kommt.

Aber gerade in der Schweiz haben wir einen funktionierenden Steuerwettbewerb, ohne dass es zu einem «race to the bottom» gekommen ist.

Wirklich? Von aussen hat man aber schon den Eindruck, dass die Schweiz ein Niedrigsteuerland sei - etwa für reiche Leute, die zuziehen und eine Pauschalisierung aushandeln können. Die Schweiz verringert mit ihren Aktionen den Spielraum des deutschen Finanzministers bei der Besteuerung von Kapitaleinkommen.

Wettbewerb hilft doch, dass die Bürger ein Bündel aus öffentlichen Gütern und Steuern erhalten, das ihnen behagt.

Der staatliche Wettbewerb funktioniert nicht wie privater Wettbewerb, weil Staaten genau dort aktiv werden, wo der Wettbewerb versagt. Denken Sie an den Umweltschutz, die Verteidigung oder die Umverteilung. Diese Leistungen würden ohne Staat nicht oder nur unzureichend bereitgestellt. Führt man durch die Hintertür den Wettbewerb auf der staatlichen Ebene wieder ein, kommt es erneut zu einer Unterversorgung.

Der Steuerwettbewerb hat aber eine disziplinierende Wirkung, weil er der staatlichen Verschwendung entgegenwirkt.

Das ist ein legitimes Gegenargument. Die Staaten können sonst ihre Macht dazu verwenden, ausbeuterische Steuern zu erheben. Ich gebe zu, das ist ein schwieriges Problem der Abwägung.

Die Globalisierung bringt es auch mit sich, dass chinesische Staatsfirmen auf Einkaufstour gehen. So will Chem China die Schweizer Syngenta kaufen. Macht Ihnen das Bauchschmerzen?

Grundsätzlich soll man den freien Kapitalverkehr ermöglichen. Es gibt aber massive negative externe Effekte der chinesischen Käufe. Es wird ja nicht nur eine Firma verkauft, sondern das Know-how einer ganzen Branche. Das ist schon ein Grund, solche Aufkäufe durch Firmen, hinter denen die Kommunistische Partei steht, kritisch zu sehen. Wir sollten den Ausverkauf von Industrien nach China nicht leichtfertig erlauben.

Die EU gibt derzeit auch wegen der Euro-Krise eine schwache Figur ab. Sie waren in den 1990er Jahren ein Befürworter der Euro-Einführung . . .

Ich hielt die Euro-Einführung damals als Staatsbürger für nützlich. Ich gehörte nicht zu den 150 Kollegen, die sich gegen den Euro aussprachen.

Weshalb hat der Euro nicht so funktioniert, wie auch Sie sich das damals vorgestellt hatten?

Wir Ökonomen sind häufig etwas naiv, weil wir glauben, dass Verträge eingehalten werden. Inzwischen wissen wir: Papier ist geduldig. Die Nichtbeistandsklausel des Maastrichter Vertrages wurde 2010 gekippt, was im Übrigen die Gründung der AfD erklärt.

Sollte man die EU nach diesem Debakel auf den Binnenmarkt eindampfen?

Der Binnenmarkt hat sehr gut funktioniert. Das Problem begann mit dem Euro. Er hat Südeuropa die Droge des billigen Geldes zugeführt. Die europäische Integration ist aber ein Friedensprojekt, von dem man nicht lassen darf. Da haben der frühere Kanzler Kohl und Finanzminister Schäuble recht. Man sollte sich auf das konzentrieren, was wichtig ist.

Woran denken Sie?

Europa sollte zu einer Sicherheitspartnerschaft zusammenfinden, die mehr ist als nur ein Anhängsel der USA. Es ist ein Anachronismus, dass wir 28 EU-Länder haben, die ein gemeinsames Parlament haben, gleichzeitig aber 25 Armeen unterhalten. Das muss man beenden. Dann könnte ein neuer Geist der Zusammengehörigkeit entstehen.

Interview: Christoph Eisenring, Berlin

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