'Was im Moment so läuft, ist wirklich der Hammer'. Der Ökonom Hans-Werner Sinn über Europas Zukunft und den Plan, dass der reiche Norden für den armen Süden zahlt

Sinn befürchtet Transferunion 2018. Früherer Chef des Münchner ifo-Institutes fordert von Italien tiefgreifende Reformen.
Hans-Werner Sinn

Schwäbische Zeitung, 27.12.2016, S. 1 und S. 8

Der frühere Chef des Münchner ifo-Institutes, Hans-Werner Sinn, warnt vor einer Transferunion in Europa. „Im Jahr 2018 wird es Verhandlungen über eine solche Union geben", sagte Sinn der „Schwäbischen Zeitung". Das schließe er „aus einer Vielzahl von Verlautbarungen aus Brüssel, Paris und Südeuropa". Man wolle „das nur aus dem Wahljahr 2017" raushalten. „Ich bezweifle, dass sich Deutschland diesen Kräften wird widersetzen können", erklärte Sinn. „In den politischen Diskussionen ist zu spüren, dass die Bereitschaft in diese Richtung geht, weil der Mut zum Widerstand nicht vorhanden ist." Sinn kritisierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dafür, dass sie das Funktionieren der Eurozone mit dem Überleben der europäischen Idee gleichsetzt. „Fällt der Euro, fällt Europa, behauptet sie", sagte Sinn. Merkel werde die Transferunion „Fiskalunion" nennen und den Sachverhalt durch blumige Vokabeln verbrämen. Für den Volkswirt verringert sich zudem mit jedem Monat, in dem sich Italien tiefgreifenden Reformen verschließt, die Wahrscheinlichkeit, dass die drittgrößte Volkswirtschaft Europas langfristig Mitglied der Eurozone bleibe. Schuld daran sei nicht zuletzt die Europäische Zentralbank, die mit ihrer Politik die Märkte aufnahmebereit halte für italienische Staatspapiere. „Wenn ich unbegrenzt für meinen bankrotten Nachbarn bürge, kann er sich immer weiter verschulden, über seine Verhältnisse leben und braucht seinen Lebenswandel nicht zu ändern", sagt Sinn. Europa könne Italien nicht wie Griechenland durch Rettungsschirme retten. „Woher soll das Geld kommen?", fragt Sinn. „Italien ist ,too big to bail', also zu groß, als dass es ähnlich wie Griechenland mit Gemeinschaftsmitteln gerettet werden könnte." Trotz allem wünscht sich der Ökonom, dass Italien Mitglied der Eurozone bleibt. „Die Italiener sind reich, sie können ihre Immobilien belasten. Für die Wettbewerbsfähigkeit müssten Preise und Löhne gesenkt werden. Das sei eine Anstrengung, die Italien ohne Weiteres schaffen könne. Bislang sei aber keine echte Reform von Belang in Rom angestoßen worden.

Eigentlich ist Hans-Werner Sinn seit zehn Monaten im Ruhestand. Die Leitung des ifo-Institutes in München, das der gebürtige Westfale in seiner 17-jährigen Amtszeit zu einem der renommiertesten deutschen Wirtschaftsinstitute machte, hat er im März abgegeben. Doch von Muße ist bei Sinn nichts zu spüren, noch immer hat der Volkswirt fast täglich Termine. Gerade stellt er sein neues Buch Der Schwarze Juni vor. Die Schwäbische Zeitung hat ihn schließlich erwischt - in der Lobby des Hotels Bayerpost in München, nachdem der Ökonom am Vorabend die Festrede zur Feier des 25-jährigen Bestehen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena gehalten hatte. Benjamin Wagener und Andreas Knoch haben sich mit dem 68-Jährigen über die Zukunft des Euro, das Schicksal Italiens und darüber unterhalten, wann der reiche Norden Europas künftig die Krisenländer des Südens alimentieren wird.

Die Welt ist in Aufruhr: Brexit, Trump, Verfassungsreferendum in Italien - überall verleihen die Menschen ihren Ängsten Ausdruck. Ist das das Merkmal unserer Zeit?

Die Globalisierung der vergangenen 30 Jahre bringt Verwerfungen mit sich, die mit naturgesetzlicher Kraft über die Gesellschaften hinweg laufen und gegen die man nur wenig machen kann. Niedriglohnländer haben nun Wettbewerbsvorteile bei arbeitsintensiv produzierten Gütern und verdrängen die entsprechenden Sektoren in den entwickelten Ländern. Die Mittelschicht in den USA verarmt. Die Unzufriedenheit entlud sich in der Wahlentscheidung. Gewisse Parallelen gibt es angesichts der Massenmigration und der Euromisere auch in Europa.

Wie beurteilen Sie die Flüchtlingsmigration aus ökonomischer Sicht?

Aus ökonomischer Sicht ist sie für die deutsche Volkswirtschaft negativ. Deutschland hat sich entschlossen zu helfen, das ist eine hehre und ehrenvolle Aufgabe. Allerdings kann der Helfende nicht erwarten, dass derjenige, dem er hilft, für ihn wieder etwas Gutes tut. Das funktioniert nicht, das ist eine verquere Logik.

Populistische  Parteien postulieren als Lösung für all diese Probleme den starken Nationalstaat. Ist das aber für eine Volkswirtschaft wie Deutschland nicht völlig widersinnig? Der deutsche Wohlstand beruht auf Freihandel, offene Grenzen, Export und Austausch.

So ist es. Freihandel ist aber nicht dasselbe wie der Verzicht auf Grenzkontrollen und freie Zuwanderung. Die Existenz des Sozialstaates, Freizügigkeit für Arbeitskräfte und die unbeschränkte Inklusion der Migranten in den Sozialsaat des Gastlandes sind drei hehre Ziele, die sich gegenseitig nicht vertragen. Cameron wollte die Inklusion beschränken, und damit hatte er recht. Weil die EU das nicht einsah, tritt Großbritannien nun aus. Im Übrigen bedeutet Freihandel nicht, dass immer nur alle gewinnen. Es gibt die Wohlfahrtsgewinne nur in dem Sinne, dass die Gewinner in der Lage wären, die Verlierer zu kompensieren.

Wer sind die Verlierer in den entwickelten Ländern?

Das sind die einfachen Lohnbezieher, Arbeiter, die über den Güterhandel in direkter Lohnkonkurrenz mit Billiglohnprodukten aus Drittweltländern stehen. Und umgekehrt sind die Gewinner in den Drittweltländern genau die einfachen Arbeiter, weil sie jetzt die Chance haben, höhere Löhne auszuhandeln. Länder wie Deutschland haben einen Sozialstaat, der die Verlierer kompensiert. Sie können die Wohlstandsgewinne des Freihandels realisieren. Anders in den USA, wo es keinen Sozialstaat gibt: Die Verlierer fallen ins Bodenlose.

Ihr neues Buch heißt „Der Schwarze Juni“ – und spielt auf den Schwarzen Freitag an. Warum haben Sie den Titel gewählt?

Um ein Buch zu schreiben, braucht man einen gewissen Erregungszustand. Erst mit ihm lässt sich die eigene Trägheit überwinden. Genau das war bei mir der Fall, als sich am 21. Juni zuerst das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beim Urteil über die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) unterwarf und sich dann zwei Tage später Großbritannien für den Brexit entschied.

An der Entscheidung des BVerfG kritisieren Sie, dass die Richter damit die „Verschuldungslawine“ in Europa legitimiert haben.

Es gibt in Europa keine politischen Kräfte, die sicherstellen können, dass die Defizitregeln des Stabilitätspaktes eingehalten werden. In fast allen Ländern steigen die Schuldenquoten. Die Zinspolitik und das Anleihekaufprogramm der EZB verstärken diese Entwicklung -und das Urteil des BVerfG legitimiert  sie. Die EZB signalisiert den Käufern der Staatspapiere der Krisenländer: Ihr braucht keine Angst zu haben, im Notfall stehen wir für die Schulden gerade. Die EZB garantiert also quasi eine kostenlose Kreditausfallversicherung. Die Zinsen fallen - und was machen die Länder? Sie verschulden sich weiter, weil es so schön billig ist.

Das Problem Griechenland ist im Vergleich zu Italien überschaubar. Wie langekann die EZB die Reformträgheit Italiens decken?

Die EZB kann immer wieder Geld drucken und so die neuen Staatspapiere, die die Italiener ausgeben, auf den Märkten aufkaufen. So sind die Märkte beliebig aufnahmebereit für italienische Papiere. So lassen sich der Lebensstandard und das Ausgabenniveau des italienischen Staates sehr lange finanzieren.

Sie kritisieren die Politik der EZB massiv - ist es aber nicht so, dass die Politik der EZB die Euro-Zone im Moment vor dem Auseinanderbrechen bewahrt?

Das mag sein. Wenn ich unbegrenzt für meinen bankrotten Nachbarn bürge, kann er immer weiter über seine Verhältnisse leben und braucht seinen Lebenswandel nicht zu ändern. Diese Politik ist aber gefährlich - nicht nur deswegen, weil sie einen Teil unserer Altersvorsorge absorbiert, sondern auch weil die Haftungsversprechen im Zweifel ja auch eingelöst werden müssen. Ein Land ist pleite, die Investoren wollen ihr Geld zurück - und dann müssen wir anstelle der Schuldner zurückzahlen.

Wen meinen Sie mit „Wir“?

Deutschland und die anderen Ländern, die halbwegs funktionieren. Hinter der EZB steht die Bundesbank und dahinter der deutsche Steuerzahler. Der muss im Zweifel für die Garantien und die damit verbundenen Ausfälle anteilsmäßig geradestehen.

Könnte man Italien wie Griechenland durch Rettungsschirme und öffentliche Kredite retten?

Nein, das wäre zu teuer. Wo soll das Geld herkommen? Italien ist „too big to bail", also zu groß, als dass es wie Griechenland mit Gemeinschaftsmitteln gerettet werden könnte.

Wäre der Plan, ein bankrottes Land aus der Euro-Zone austreten zu lassen, auf ltalien anwendbar?

Der Plan wäre auf jedes Land anwendbar. Ich finde zwar, dass Italien nicht austreten, sondern lieber seine Hausaufgaben machen sollte, um seinen Schuldenstand runterzubringen. Die Italiener sind reich, sie können ihre Immobilien belasten. Und zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit müssten sie ihre Preise und Löhne senken. Das ist eine Anstrengung, aber Italien könnte das ohne Weiteres schaffen. Doch im Gegensatz zu Spanien hat Italien in acht Jahren Krise leider noch überhaupt keine Reformen von Belang angestoßen.

Was wird Italien tun?

Italien wird sich weiter Reformen verschließen. Und damit verringert sich mit jedem Jahr die Wahrscheinlichkeit, dass Italien im Euro bleibt.

Welche Zukunft sehen Sie für den Euro als Gemeinschaftswährung?

Ich werde zunehmend skeptisch. Wenn man das Rad der Geschichte zurückdrehen könnte, würde ich sagen, nie im Leben den Euro.

War der Euro ein Fehler? Oder hätte man vielleicht einfach nur die Regeln beachten sollen?

Die Regeln war en leider schon so angelegt, dass man sie nicht beachtet. Es waren Lippenbekenntnisse und Versprechen gegenüber Deutschland, damit wir dem Euro zustimmen. Der Wille, das zu einem Regelgrundsystem zu machen, war nie da.

Kommt also doch die Transferunion, bei der der reiche Norden den armen Süden alimentiert?

Ich befürchte es. Im Jahr 2018, wenn die Wahlen vorbei sind, wird es Verhandlungen über eine solche Fiskalunion geben. Das folgt aus einer Vielzahl von Verlautbarungen aus Brüssel, Paris und Südeuropa. Man will das nur aus dem Wahljahr 2017 raushalten. Und ich bezweifele, dass sich Deutschland diesen Kräften wird widersetzen können. Berlin wird sich, wie immer in den vergangenen Jahren, wenn kein Plan da ist, auf Rückzugsgefechte beschränken.

Eine Transferunion spricht gegen alle Überzeugungen der politisch Verantwortlichen. Die Kanzlerin und ihre Finanzminister haben sich klar dagegen ausgesprochen.

Aber die Kanzlerin handelt nicht so. Fällt der Euro, fällt Europa, behauptet sie jedenfalls. Das ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass sie bereit ist, den Griff in das Portemonnaie der Deutschen zu erlauben. Sie wird die Transferunion ,Fiskalunion' nennen und den Sachverhalt wie stets durch blumige Vokabeln verbrämen. Ihre Politik hat schon dazu geführt, dass der deutsche Steuerzahler für die Rettung Griechenlands gezahlt hat – und sie wird auch logischerweise dazu führen, dass die Transferunion zur Rettung von Südeuropa genutzt wird. In den politischen Diskussionen ist zu spüren, dass die Bereitschaft in diese Richtung geht, weil der Mut zum Widerstand nicht vorhanden ist.

Wird es Eurobonds geben?

Angela Merkel hat gesagt, solange sie lebt, wird es keine Eurobonds geben. Sie wird den Weg der Vergemeinschaftung der Schulden durch Rettungsschirme, gemeinsame Budgets und die EZB-Politik aber weitergehen. Nur wird sie darauf bestehen, dass das Wort Eurobonds nicht auftaucht.

Was würde die Transferunion für die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Länder bedeuten?

Die Transferunion erlaubt Ländern, die über ihre Verhältnisse leben und ein Lohnniveau haben, das durch die Kredite der Vergangenheit gestiegen und nicht durch die Produktivität gedeckt ist, weiter in diesem Zustand zu verharren. So werden sie nie wieder den Anschluss bekommen.

Seit März sind Sie im Ruhestand. Wie sieht Ihr Leben seitdem aus?

Ich bin und bleibe ein politisch empfindender und denkender Mensch. Zeit für private Interessen bleibt mir kaum, denn als Volkswirt forsche und schreibe ich weiter. Eigentlich habe ich gar keine Zeit. Weil alles so wichtig ist. Europa geht, wenn wir nicht aufpassen, vor die Hunde. Alle paar Monate kommt ein neuer Schlag. Ich bin schon älter, ich habe in meinem Leben schon allerlei Krisen mitgemacht. Aber das, was im Moment so läuft, ist wirklich der Hammer.