„Ein Volkswirt auf Suche“

Philip Plickert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Februar 2018, S. 18.

Hans-Werner Sinn blickt auf sein Leben zurück.

Der langjährige Präsident des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, legt kurz vor seinem 70. Geburtstag, den er am 7. Mai feiert, eine üppige Autobiographie vor. Das Buch hat stolze 656 Seiten. Es ist ein Rückblick auf ein bewegtes Forscherleben, auf seine biographischen Prägungen, seine Entwicklung als Ökonom und seine Motivation („die Welt verbessern“), die großen zeitgeschichtlichen Ereignisse und die wirtschaftspolitischen Debatten, die er mitgeprägt hat.

Sinn hat immer wieder politischen Einfluss gehabt. Etwa mit Reformplänen für den deutschen Arbeitsmarkt und den Sozialstaat, dessen Probleme er im Bestseller „Ist Deutschland noch zu retten?“ (2003) analysierte. Damit hat er Reformen mit angestoßen und geholfen, den einstigen „kranken Mann“ Europas wieder wirtschaftlich stark zu machen. Nur ungern gehört wurde in der Politik seine kritische Analyse der Energie- und Klimapolitik („Das Grüne Paradox“) und seine harsche Kritik der Euro-Rettungspolitik. All das wird hier lesenswert rekapituliert. Dazu kommen Reiseerlebnisse, Begegnungen mit Personen der Zeitgeschichte und bekannten Ökonomen. Im Anhang gibt es Fotos von Sinn, vom Kindergarten bis zur Verleihung von Ehrendoktorwürden, zuletzt eines mit Pelzmütze und Adler auf der Faust in der Mongolei, neben ihm Gerlinde, seine Frau. Eine Straffung des Textes und ein paar Anekdoten weniger hätten von Zeitnot geplagten Lesern geholfen. Doch Sinn hat viel zu erzählen und erzählt spannend.

Beispielsweise über seine Jugend in ärmlichen Verhältnissen. Geboren wurde er 1948 im westfälischen Brake nahe Bielefeld als einziges Kind zweier junger Leute, die sich in den Nachkriegsjahren selbst kaum über Wasser halten konnten. Der strenge Vater arbeitete als Lastwagenfahrer, später hatte er ein kleines Taxiunternehmen, in dem Hans-Werner Sinn mithalf; die Mutter, eine Vertriebene aus Pommern, arbeitete in einer Fahrradfabrik. Für den Sohn hatten sie kaum Zeit, der wuchs bei der Großmutter auf. Nur mit Glück schaffte er es - als Einziger aus der Dorfschule - ans Gymnasium in Bielefeld, wo er erst mal seinen schweren westfälischen Dialekt ablegen musste. Der Weg in die Wissenschaft, bis an die Spitze der deutschen Volkswirte und zu internationalem Renommee, war ihm nicht vorgezeichnet.

Ausführlich beschreibt Sinn die sozialdemokratische Prägung in der Familie. Schon der Großvater mütterlicherseits war SPD-Mitglied im pommerschen Kolberg, die Nazis verschleppten ihn in ein Konzentrationslager und ein Arbeitslager, dort ist er verschollen. Sinns Vater war lebenslanges Parteimitglied. Er selbst ging zur SPD-Jugendorganisation „Die Falken“, nahm teil an Fahrten zu Orten von Nazi-Verbrechen in Frankreich und Tschechien. Die Völkerverständigung und Aussöhnung in Europa ist ihm wichtig, Sinn fühlt sich als Europäer - er erzählt dies auch, um Vorwürfen zu begegnen, er sei wegen seiner Euro-Kritik „Anti-Europäer“. Als Student war er Willy-Brandt-Fan, engagierte sich im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) in Münster, fuhr nach Berlin zu Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg. Mit den ideologisch-linken 68ern hatte er aber nichts am Hut.

Im Studium näherte er sich marktwirtschaftlichen Überzeugungen an. Ein Unterkapitel der Autobiographie hat er „Der Sieg der ,unsichtbaren Hand'“ betitelt, ein anderes „... warum Hayek recht hatte“. Allerdings ist Sinn kein „Neoliberaler“. Er differenziert zwischen den historischen Ordo- und Neoliberalen, die einen starken Staat als Rahmensetzer für die Marktwirtschaft forderten, und der Chicagoer Schule, die er ablehnt. Sinn ist für einen Sozialstaat als Versicherung gegen die Risiken des Lebens. Als Finanzwissenschaftler steht er in der geistigen Tradition von Richard Musgrave, der dem Staat drei Aufgaben zuwies: Allokations-, Stabilisierungs- und Verteilungspolitik. Die staatsskeptische Sicht von James Buchanan, der das Eigeninteresse von Politikern und Bürokraten hervorhob, nimmt er zur Kenntnis. Weil Politiker oft eine eigene Agenda verfolgen, müsse der Volkswirt sich mit seinen Erkenntnissen auch direkt ans Volk wenden - darin ist Sinn ein Meister.

Seit 1984 lehrte Sinn in München. Als sein „Schlüsselerlebnis“ bezeichnet er die deutsche Wiedervereinigung 1989. Damals mischte sich der Wirtschaftsprofessor erstmals ganz aktiv in die große Debatte über den Umgang mit der maroden DDR ein. Gemeinsam mit seiner Frau Gerlinde, die ebenfalls Ökonomin ist, schrieb er das Buch „Kaltstart“ und analysierte, welche Fehler im Vereinigungsprozess gemacht wurden. Mit „Kaltstart“ trat Sinn aus dem akademischen Elfenbeinturm heraus, wie er selbst schreibt. Zuvor hatte er sich viele Jahre vor allem mit theoretisch-mathematischen Modellarbeiten profiliert. Sein Münsteraner akademischer Lehrer Herbert Timm hatte ihn aber schon gewarnt, keine abgehobenen „Glasperlenspiele“ zu betreiben. Sinn beschreibt sich selbst „auf der Suche nach der Wahrheit“ - so der recht hochgegriffene Titel der Autobiographie.

Als reifer Volkswirt schrieb Sinn Bücher, mit denen er direkt das große Publikum erreichte. „Der Betriebswirt hilft dem Betrieb, der Volkswirt dem Volk. Das klingt banal, aber genau das ist der Kern meiner Motivationslage“, schreibt er. Große Verdienste hat sich Sinn erworben mit der Sanierung des ifo-Instituts. Seiner Qualität als Wissenschaftsmanager ist es zu verdanken, dass dieses Institut heute an der Spitze mitspielt.

Das letzte Kapitel widmet er der Europa-Debatte. „Wo bleibt mein Europa?“ Sinn hat sich vom Befürworter zum Kritiker des Euros („das Hauptproblem Europas“) gewandelt. Als „westfälischer Sturkopf“ hat er es geschafft, die schwer zu durchdringende Problematik des Target-Zahlungssystem der Euro-Notenbanken in die öffentliche Debatte zu heben. Deutschlands Realkapital werde geplündert, im Gegenzug bekomme die Bundesbank wertlose Target-Forderungen gutgeschrieben, fürchtet er. Kanzlerin Merkel habe sich auf die EZB verlassen und eine „obskure und nicht mehr mit dem Geist unserer Demokratie kompatible Rolle gespielt“. Für solche Kritik an der Politik wird Sinn in Berlin gefürchtet. Viele Kollegen und Bürger schätzen ihn als freien Geist und Mann des offenen Worts.