Der Junge vom Dorf

Caspar Busse, SZ, 21.02.2018

Er ist der bekannteste und einer der streitbarsten Ökonomen Deutschlands: Jetzt schildert Hans-Werner Sinn in einer Autobiografie seine Jugend in Armut und den Aufstieg zum Politikberater - und will so auch das Bild vom kalten Volkswirt korrigieren.

Eine der wichtigsten Fragen wird in diesem Buch nicht geklärt: Woher kommt der Bart? Schon als Student Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ließ sich Hans-Werner Sinn den markanten Abraham-Lincoln-Gedächtnisbart wachsen, angeblich auf Wunsch seiner Frau Gerlinde. Zwischendurch habe er ihn mal kurzzeitig abrasiert, erzählt Sinn, aber dann sei er schnell wieder gewachsen. Der Bart, inzwischen ganz grau, ist bis heute das Wiedererkennungsmerkmal des immer noch bekanntesten deutschen Ökonomen.

An diesem Mittwoch erscheint Sinns Autobiografie mit dem Titel „Auf der Suche nach der Wahrheit“. Es ist ein ungewöhnlich persönliches Buch für den streitbaren Volkswirt, der Anfang März seinen 70. Geburtstag feiert. Auf 672 Seiten berichtet Sinn bislang Unbekanntes aus seinem Leben, schildert, bisweilen etwas langatmig, seinen Werdegang, die Entwicklung seiner Theorien und seine doch sehr zielstrebige Karriere bis hin zu einem profilierten Politikberater und häufigen Talkshow-Gast. Zwei Jahre lang habe er daran gearbeitet, sagt Autor Sinn, sein Lektor habe ihm immer wieder Wirtschaftstheoretisches gestrichen, zugunsten der Anekdoten aus seinem Leben. „Die Öffentlichkeit soll verstehen, wie ich zu meinen Gedanken gekommen bin“, sagt Sinn.

Gleich mehrfach betont der Bestsellerautor, dass er aus einfachen Verhältnissen stammt. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, und ich kenne die Nöte des Alltags, ja die Armut“, schreibt er. Die Familie wohnte im westfälischen Örtchen Brake in einer kleinen Sozialwohnung, einen Teil seiner Kindheit verbrachte er bei seinen Großeltern. Später arbeitet er im Taxiunternehmen des Vaters mit und schob Sonntagsschichten. Es war also keineswegs selbstverständlich, dass der Junge vom Dorf einmal das Gymnasium in Bielefeld besuchen würde. Dort angekommen, fiel er durch „einen ziemlich breiten westfälischen Dialekt“ auf, während die Bielefelder Bürgerkinder sich sehr gewählt im Hochdeutschen auszudrücken wussten. Später musste Sinn eine Klasse wiederholen, am Wochenende half er seinen Eltern in deren kleinem Betrieb. Das Fazit seiner Schulzeit fällt aber doch positiv aus: „Als ich das Gymnasium in Bielefeld verließ, hätte ich am liebsten mehrere Fächer parallel studiert, so hatte mich der Schulunterricht fasziniert und motiviert.“ Er entschied sich dann schnell für Volkswirtschaftslehre in Münster, dort lernte er bald seine „große Liebe“ kennen, Gerlinde,

auch eine Volkswirtin.

Damals war Sinn - man mag es heute kaum glauben - ein richtiger Linker, er engagierte sich erst bei den Falken, der Jugendorganisation der Sozialdemokraten, später beim Sozialistischen Hochschulbund, wurde SPD-Mitglied, bewunderte Willy Brandt, wohnte in einer WG mit einem palästinensischen Studienfreund, nahm an Demos teil, unternahm Exkursionen und Studienreisen,

schrieb eine Diplomarbeit zu den Theorien von Karl Marx.

Später wechselte er an die Universität Mannheim, 1985 an die Ludwig-MaximiliansUniversität in München, ging für Studienaufenthalte in die USA und nach Kanada, war auch mal Berater der Regierung von Bolivien. 1999 wurde er Präsident des Münchner Ifo-Instituts, das damals in einer tiefen Krise war. Immer weiter änderte sich sein Weltbild, aus dem Linken wurde ein durchaus konservativer Ökonom.

Er wolle sich heute nicht als „Marktradikaler oder als Neoliberaler bezeichnen lassen“, schreibt Sinn - doch in den Augen vieler ist

er genau das. Sinn, der Prediger der Ökonomie, pointiert und streitbar, er verteidigt den Agenda-2010-Kurs von Gerhard Schröder und kritisiert die Europäische Zentralbank. Aufsehen erregte Sinn in den vergangenen Jahren mit provokanten Thesen, seiner eurokritischen Haltung und seinen Büchern, viele verkauften sich gut und stießen auch auf Interesse außerhalb des Fachpublikums.

Begonnen hatte er 1991 mit „Kaltstart“, in dem er gemeinsam mit seiner Frau die ökonomischen Probleme der Wiedervereinigung beschrieb, auf dem Titel ein Mercedes und ein Trabi, das Foto wurde im Garten der Familie aufgenommen. Es folgten „Die

Basar-Ökonomie“, „Die Target-Falle“, „Gefangen im Euro“ oder zuletzt „Der schwarze Juni“ über die Folgen des Brexit. Sinn warf gerne mit Zahlen um sich und wirkte bisweilen, besonders bei seinen unzähligen Fernsehauftritten, kalt und rechthaberisch. Auch dieses Bild will Sinn mit seiner Autobiografie richtig rücken. "Die Wahrheit bleibt doch die Wahrheit und sie muss ausgesprochen werden, damit die Dinge sich zum Besseren ändern können.

Vor zwei Jahren zog sich Sinn zurück, seitdem ist es ruhig um ihn geworden. 82 Semester hat er Studenten unterrichtet, seine Leidenschaft war immer die Lehre gewesen. Seit seiner Emeritierung habe er ein immer währendes Freisemester, sagt Sinn.

Nicht ausgeschlossen, dass er weiterschreibt.

Nachzulesen auf www.sueddeutsche.de.