Italien nimmt andere Länder in Haftung

Hans-Werner Sinn

Münchner Merkur, 25. Mai 2018, S. 5.

Die Sorge um die Stabilität des Euro wächst: Seit klar ist, dass Italien künftig unter Ministerpräsident Giuseppe Conte von einem Bündnis aus Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtspopulistischen Lega geführt werden wird, herrscht Unruhe an den Finanzmärkten. Wir sprachen mit dem früheren Chef des ifo-Instituts, HansWerner Sinn, über die Risiken für die Eurozone.

Sie haben zu Jahresbeginn gesagt, dass Sie die größten ökonomischen Risiken in Italien sehen. Fühlen Sie sich jetzt bestätigt?

Ich wusste, wie die Stimmung in Italien ist. Durch den Euro ist Italien – wie übrigens alle anderen südeuropäischen Länder auch – zu teuer geworden. Italien hat an Wettbewerbsfähigkeit verloren und müsste jetzt eigentlich billiger werden. Das geht aber nur durch einen drastischen Sparkurs, der das Land in eine temporäre Rezession drücken würde und einer Chemotherapie gleichkäme. Dass die keiner will, verstehe ich.

Das ist der Kurs der finanziellen Leichtfertigkeit, der andere Länder in die Haftung nimmt und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes noch weiter lädiert, weil er abermals Lohnerhöhungen jenseits des Produktivitätswachstums ermöglicht. Wir sind im Euro durch den Kurs der EZB in einem System der weitgehenden Vergemeinschaftung der Staatsschulden gelandet. Die nördlichen Länder werden sich nun gegen Italien wehren. Frankreich wird hingegen Italien unterstützen wollen, weil die französischen Banken dort wichtige Kunden haben. Die EU wird weiter gespalten. Am Ende dieses Streits könnte Italiens Austritt aus der Währungsunion stehen. Die neue Regierung hat ja in ihrem ersten Koalitionsprogramm bereits angekündigt, eine Parallelwährung einzuführen, auch wenn das unter dem Druck der Märkte inzwischen wieder entschärft wurde.

Was genau muss man sich unter einer Parallelwährung vorstellen?

Der Staat würde seine Rechnungen im Privatsektor mit Schuldscheinen bezahlen. Diese Schuldscheine würde er übertragbar machen und zulassen, dass die Leute damit ihre Steuern bezahlen und auch untereinander Rechnungen begleichen.

Für wie wahrscheinlich halten Sie das Szenario?

Für sehr wahrscheinlich, denn die Leute wollen keine Steuern zahlen. Der Staat wird sich so helfen wollen. Das ist ein lange gehegter Plan der Lega. Auch die Fünf-Sterne-Bewegung hat viel über einen Euro-Austritt geredet.

Wie wahrscheinlich ist es, dass in Italien am Ende die Lira wieder eingeführt wird?

Der Schritt zur weiterer Eskalation und zum Austritt aus der Eurozone ist dann nicht mehr allzu groß. Ich sage es einmal so: Die Wahrscheinlichkeit, dass Italien dauerhaft im Euro bleibt, fällt von Jahr zu Jahr.

Welche Folgen hätte ein Austritt Italiens für Deutschland?

Italienische Schuldpapiere liegen teilweise im Ausland, auch bei deutschen Finanzinstituten, mehr aber noch in Frankreich. Wenn die Staatsanleihen nicht mehr bedient würden, weil die Schuldner jetzt in Lira bilanzieren und nicht mehr in der Lage sind, die Euroschulden zu verkraften, würde das zu Verlusten bei den Gläubigern führen. 80 Prozent der italienischen Staatspapiere, die größtenteils auch in Italien liegen, sind zudem noch vor 2012 unter alten Regeln ausgegeben worden. Damit kann sie Italien nach Belieben in eine heimische Währung umtauschen – die Abwertungsverluste würden dann die Gläubiger tragen.

Meist sind es die großen Banken, die im Besitz der Staatsanleihen sind. Schlittern wir sehenden Auges in eine neue Finanzkrise hinein?

Die Zinsen für Italien gehen bereits hoch, und wir beobachten schon jetzt Ansteckungseffekte auf andere Länder. Das ist der mögliche Einstieg in eine neue Finanzkrise.

Wie ließe sich das Szenario noch abwenden?

Man kann das Problem durch neue Kredite nur noch verschieben, aber nicht beheben, denn das Grundproblem ist die fehlende Wettbewerbsfähigkeit. Es gibt für Italien vier Möglichkeiten, um sie zurückzugewinnen. Erstens: Die Preise fallen durch die erwähnte Sparpolitik. Das hat Italien aber zehn Jahre nicht geschafft und wird es daher auch jetzt nicht schaffen. Möglichkeit zwei ist, dass die nördlichen Länder nachinflationiert werden.

Über höhere Löhne?

Nein, über eine lockere EZB-Politik und eine Stärkung der Konjunktur, die sämtliche Preise in Deutschland nach oben zieht – darunter auch die Löhne. Die Löhne selbst sind nicht das Instrument, sondern die Folge. Aber Deutschland zu inflationieren, ist ebenfalls sehr schwierig. Die EZB hat das versucht, doch ist es zum Glück für uns noch nicht gelungen.

Wie sehen die Möglichkeiten drei und vier aus?

Die dritte Möglichkeit ist die Schaffung einer Transferunion. Wir würden den Italienern Geld schenken und ihnen Schulden erlassen. Im ersten Entwurf des Koalitionsvertrages der neuen italienischen Regierung stand ja bereits der Wunsch, 250 Milliarden Euro Schulden gestrichen zu bekommen. Der vierte Weg ist der Austritt aus dem Euro. Das sind die beiden Möglichkeiten, die bleiben – also Transferunion oder Austritt. Wir stehen vor der Frage, wie viel Schuldenerlass und gemeinsame europäische Budgets, wie sie auch Macron will, gewähren wir Italien. Im nächsten Schritt wird es dann um die Frage gehen, ob diese Zugeständnisse den Italienern ausreichen – oder ob sie lieber aus dem Euro austreten.

Welche Möglichkeiten hat die Bundesregierung?

Die Bundesregierung sollte ihren aussichtslosen Kurs beenden. Wir haben ein Euro-System, in dem eine Gemeinschaftshaftung für die Ausleihungen der Banken grundsätzlich angelegt ist. Durch die von Deutschland tolerierten Mandatsüberschreitungen der EZB wurde sie auf die Staatsschulden ausgeweitet. Dieser Kurs führt zu immer größeren Problemen, die sich aufstauen. Wenn ein Land ohne Geschenke anderer Länder nicht mitmachen möchte und die Chemotherapie auch nicht will, ist es unvermeidbar, dass es austritt. Mit der bisherigen europäischen Rettungspolitik sind wir in einer Sackgasse angekommen. Die Politiker haben die Probleme vor sich hergeschoben, sie haben Schulden vergemeinschaftet und haben die Augen gegenüber der EZB-Politik verschlossen. Die Lebenslüge war: Man kauft den Ländern Zeit für Reformen. In Wahrheit hat man sich vor der Verantwortung gedrückt und Zeit fürs Nichtstun gekauft.

Warum ist in Italien die EU trotzdem so unbeliebt? Schließlich profitiert Italien wie kaum ein anderes Land von der EZB-Politik.

Es ist vor allem der Euro, der unbeliebt ist, weil er eine Zwangsjacke für Italien geworden ist. Italien müsste abwerten und kann es nicht. Das ganze Eurosystem ist für Südeuropa wie eine Droge: Bis 2008 waren alle high, dann wurden die Drogen des billigen Kredits, der unter dem Euro möglich war, abgesetzt. In der Krise gab es die Ersatzdroge Methadon, als die EZB den nationalen Notenbanken erlaubte, ihre Länder mit den eigenen Druckerpressen zu retten und grenzenlose Garantien ausgesprochen hat. Aber jetzt wirkt auch das Methadon nicht mehr.

Wie sehen die Handlungsoptionen der EZB aus? Wie soll sie jetzt den Ausstieg aus dem Anleihenkaufprogramm wagen und die Zinsen schrittweise erhöhen? Das wäre doch der Todesstoß für Italien.

So ist es. Die EZB hat sich in eine Sackgasse manövriert. Sie hat Staatspapiere in Höhe von 2000 Milliarden gekauft und kann sie jetzt nicht mehr verkaufen. Täte sie das, würden die Zinsen in den Himmel gehen und manches Land würde Schwierigkeiten bekommen.

Glauben Sie, dass die EZB entgegen der allgemeinen Markterwartung ihr Anleihenkaufprogramm doch noch einmal verlängert und die Niedrigzinsphase noch weiter ausdehnen wird?

Ja, das ist angesichts der Lage in Italien nicht ausgeschlossen. Bis zum Ende der Sackgasse kann man noch ein Stück weit gehen.

Das Interview führte Sebastian Hölzle.

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