Immigration in den Sozialstaat

Hans-Werner Sinn

Project Syndicate, 26.01.2016.

Nach der Destabilisierung der arabischen Länder durch verschieden Kriege haben sich riesigen Menschenmassen auf den Weg nach Europa gemacht. Über eine Million kamen nach Deutschland. Gleichzeitig hat die Herstellung von Freizügigkeit, wie vielfach übersehen wird, innerhalb Europas gewaltige Migrationsprozesse in Gang gesetzt. So sind allein im Jahr 2014 netto 304.000 Menschen aus anderen EU-Ländern nach Deutschland zugewandert, so viel wie nie zuvor, und im Jahr 2015 werden es kaum weniger gewesen sein.

Einige europäische Länder haben reagiert, indem sie sich faktisch aus der Schengen-Vereinbarung gelöst haben und ihre Grenzen wieder kontrollieren. Dazu gehören Österreich, Ungarn, Slowenien, Spanien, Frankreich sowie auch die anfangs sehr aufnahmewilligen Länder Dänemark und Schweden.

Für den Ökonomen ist das Geschehen nicht weiter verwunderlich, denn es gibt seit den neunziger Jahren dutzende von wissenschaftlichen Artikeln zur Migration in den Sozialstaat, in denen viele der sich nun zeigenden Probleme bereits diskutiert wurden. Auch der Verfasser hatte sich damals die Finger wund geschrieben, um die Politik zu warnen, ohne dass er auf viel Verständnis stieß. Dazu waren damals noch nicht genug Kinder in den Brunnen gefallen.

Es geht hier ums Grundsätzliche. Sozialstaaten sind dadurch definiert, dass sie denen die überdurchschnittlich verdienen mehr Steuern und Beiträge abverlangen, als sie an öffentlichen Leistungen zurück erhalten, während sie den unterdurchschnittlich Verdienenden netto staatliche Ressourcen zukommen lassen. Diese Umverteilung ist ein sinnvolles Korrektiv der Marktwirtschaft, quasi eine Versicherung gegen die Zufälle des Lebens und die Härten der Knappheitsentlohnung, die die Marktwirtschaft kennzeichnet und die mit Gerechtigkeit wenig zu tun hat.

Sozialstaaten sind deshalb grundsätzlich nicht kompatibel mit der freien Wanderung der Menschen zwischen den Staaten, wenn die Migranten in den Genuss der staatlichen Leistungen des Gastlandes kommen. Die Staaten wirken wie ein Magnet für die Armutsflüchtlinge und ziehen viel mehr von ihnen an, als es aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen ratsam wäre, denn die Flüchtlinge erhalten zusätzlich zu ihrem Lohn eine Migrationsprämie in Form des staatlichen Umverteilungsgewinns. Nur wenn sie allen den Lohn erhielten, könnte man auf eine effiziente Selbststeuerung der Migration vertrauen.

Der Sozialmagnetismus führt nicht nur zu einer ineffizienten Verteilung der Menschen im Raum, sondern erodiert und lädiert die Sozialstaaten. Außerdem treibt er die möglichen Gastländer auf die Dauer in einen Abschreckungswettbewerb durch gezielte Rücknahme der sozialstaatlichen Leistungen über das hinaus, was bereits die Mittelknappheit gebietet.

David Cameron hat nun gegenüber der EU die richtige Konsequenz aus dieser Erkenntnis gezogen, indem er auch für die innereuropäischen Wirtschaftsflüchtlinge eine Einschränkung des Inklusionsprinzips fordert. Erst nach vier Jahren sollen Migranten in den Genuss steuerfinanzierter Sozialleistungen kommen, selbst wenn sie eine Arbeitsstelle finden. Für nicht arbeitende EU-Migranten galt bislang schon, dass sie grundsätzlich erst nach einer Wartezeit von fünf Jahren in den vollen Genuss der staatlichen Sozialleistungen kommen.

Der Vorschlag bedeutet im Prinzip keine sozialen Härten, weil er darauf hinausläuft, dass die EU-Migranten stattdessen während dieser vier Jahre vom Heimatland finanziert werden, wenn sie bedürftig werden. In der Tat spricht viel dafür, die EU-Regeln viel stärker in die Richtung eines Heimatlandprinzips zu verändern. Das Heimatland bleibt trotz der Wanderung für eine Reihe von Jahren für Sozialfälle zuständig, und erst dann wechselt man zum Inklusionsprinzip.

Es ist ja auch schwer einzusehen, warum beispielswiese ein deutscher Sozialhilfeempfänger, der nicht arbeitsfähig ist, vom spanischen Staat versorgt werden sollte, wenn er es vorzieht, seinen Wohnsitz nach Mallorca zu verlegen. Genauso unplausibel wäre es, wollte man dieser Person die freie Wohnsitzwahl verwehren, bloß um den spanischen Staat zu schützen. Wenn man das europäische Ziel der Personenfreizügigkeit ernst nimmt, dann muss die heilige Kuh des Inklusionsprinzips endlich geschlachtet werden.

Das gilt natürlich nicht für Wirtschaftsflüchtlinge aus Nicht-EU-Ländern, schon gar nicht für politisch Verfolgte. Bei solchen Menschen lässt sich das Heimatlandprinzip meistens nicht anwenden. Dennoch kann man sie aus den genannten Gründen nicht zu Hunderttausenden wie Einheimische in den Sozialstaat integrieren, ohne diesen Staat zu lädieren. Deshalb bietet es sich an, wenigstens von den bislang dominierenden Lohnersatzleistungen, die ohne Arbeit zur Verfügung gestellt werden, zu einem System mit Lohnzuschüssen und Leistungen für kommunale Arbeit überzugehen. Das senkt die Nettokosten der Leistungen und verringert die Migrationsanreize. Die deutsche Arbeitsministerin Andrea Nahles hat kürzlich ähnliches unter dem Stichwort Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge ins Spiel gebracht, denn mit diesen Jobs wird die Grundsicherung faktisch zu einem Lohn für einfache Arbeit. Das ist ein überaus nützlicher Vorschlag in einer ansonsten chaotischen Grundsituation.

Nachzulesen auf www.project-syndicate.org