Die Flüchtlingskrise hat Deutschland erpressbar gemacht

Warum Deutschland in der EU momentan zu viele Eigeninteressen aufgibt und weshalb der Herbst für die EU zur Krisenzeit werden könnte, erklärt der Ökonom Hans-Werner Sinn im Interview.
Hans-Werner Sinn

VDI nachrichten Nr. 31/32, 3. August 2018, S. 4.

Herr Sinn, auf dem jüngsten EU-Gipfel wollten die Staatschefs über Reformen im Euroraum verhandeln, um den aufgetürmten Problemen entgegenwirken zu können. Die Themen wurden aber auf Dezember vertagt. Warum kommen die Reformen nicht voran?

In der EU gibt es grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten zu wichtigsten Fragen. So will Macron Geld für den Süden, u. a. indem die Einlagen der Banken gemeinsam gesichert werden. Frau Merkel lässt es an wirkungsvollem Widerstand fehlen. Und unter Führung der Niederlande votieren die anderen nördlichen Staaten strikt dagegen. Bisher haben sich überhaupt erst acht EULänder von insgesamt 28 zu Macrons Vorschlägen geäußert.

Das EU-Führungsduo Merkel und Macron legt immer wieder Vorschläge vor, um Reformen und eine engere Konvergenz in Europa zu erreichen. Aber prallen hier nicht unterschiedlichste Wirtschaftskulturen aufeinander?

Ja, die Deutschen setzen mehr auf Verträge, obwohl es in Europa kein Gericht gibt, in dem deutsche Richter auch nur halbwegs anteilig vertreten sind. Die Franzosen setzen auf die Schaffung von Entscheidungsgremien. Dabei achten sie sorgfältig auf deren Zusammensetzung und Stimmverhältnisse, damit die „richtigen“ Entscheidungen zustande kommen. Beide haben aber unterschiedlichste Interessen: Frankreich hängt sehr am Mittelmeerraum. Vor allem sind die französischen Banken dort kreditmäßig stark engagiert und französische Unternehmen beliefern in erheblichem Maße Südeuropa. Der Fokus der Deutschen liegt dagegen eher in Osteuropa. So wichtig die deutschfranzösische Achse ist – ich finde, Deutschland gibt zu viele Eigeninteressen auf.

Die Probleme des Euroraums sind existenziell und in Sachen Konvergenz wartet man schon lange auf Fortschritte. Sehen Sie den Euroraum in fünf Jahren in gleicher Zusammensetzung wie heute?

Solange die Deutschen, aber auch andere Nordeuropäer, bereit sind, ihr Portemonnaie auf den Tisch zu legen und weiterhin Bürgschaften geben, bleibt der Euroraum mit all seinen Mitgliedsländern erhalten.

Aber vielleicht gibt es auch andere Lösungen?

Ich bin überzeugt, wenn man sich dazu durchringen könnte, eine atmende Währungsunion zu schaffen – die es Ländern, die mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpfen, gestattet, vorübergehend den Währungsverbund zu verlassen und sich über die Abwertung einer eigenen nationalen Währung wieder international wettbewerbsfähig zu machen – dann würde das den jetzt krankenden Ländern Südeuropas wieder auf die Beine helfen. Gestärkt würde auch die gesamte Währungsunion und letztlich auch die EU. Europa kann es sich nicht länger leisten, angesichts des Erstarkens von China sowie des gesamten pazifischen Raums und des Säbelrasselns eines US-Präsidenten den eingeschlagenen Weg der Schwäche fortzusetzen, bei dem Südeuropa sich weitgehend aus dem Wettbewerbsmarkt verabschiedet. Es gilt, die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme mithilfe fundamentaler Reformen anzugehen. Das geht nur, indem man nicht weiterhin krampfhaft an der Mitgliedschaft jedes einzelnen Eurolandes festhält.

EU-Finanzkommissar Muscovici erklärte jüngst, die griechische Krise sei vorbei. Gleichzeitig soll Griechenland 15 Mrd. € sowie Schuldenerleichterungen erhalten. Sieht eine „Rückkehr in die Normalität“ nicht anders aus?

Das ist keine Rückkehr in die Normalität, das ist ein viertes Rettungspaket, das nur nicht so genannt wird.

Der deutsche Bundestag hat die „abschließenden Griechenlandhilfen“ Ende Juni abgesegnet. Gleichzeitig erhält die deutsche Kanzlerin im europäischen Flüchtlingsstreit Unterstützung vom griechischen Regierungschef Tsipras.

Die Flüchtlingskrise, die uns die Kanzlerin eingebrockt hat, hat Deutschland erpressbar gemacht. Jetzt muss Deutschland anderen Ländern durch Geldleistungen entgegenkommen, bis hin zur Transferunion des französischen Präsidenten Macron, damit sie wenigstens halbwegs bereit sind, auf die deutschen Wünsche zu einer Verteilung der Flüchtlinge einzugehen.

Die Transferunion ist also schon Realität?

Nicht offiziell, aber durch die vielen privaten und öffentlichen Kredite, die bereits im Rahmen von Rettungsaktionen für den Süden geflossen sind, ist der Grundstein für die Transferunion bereits gelegt: Ein Großteil der Kredite ist nicht oder nur unzureichend besichert. Man wird sie weiter verlängern und irgendwann streichen. Damit mutieren die Kredite zu Transfers. Macron hat in seiner Sorbonne-Rede eine Vertragsänderung für eine Transferunion gefordert. Auch die Länder Südeuropas wollen an das Geld des Nordens.

Verglichen mit den wirtschaftlichen Problemen in Italien wirkt die Krise in Griechenland harmlos. Wären die hohe Schuldenlast und die große Zahl fauler, uneinbringlicher Kredite italienischer Banken im Ernstfall überhaupt durch die Eurozone finanziell zu schultern?

Die faulen Kredite italienischer Banken liegen – je nach Quelle – zwischen 11 % und 16 % ihrer gesamten Ausleihungen – das ist mehr als die Hälfte des gesamten Eigenkapitals des italienischen Bankensystems. Aber diese ausgewiesen faulen Kredite zeigen nur die Spitze des Eisbergs: Heute kauft die EZB den Banken Staats- und Unternehmensanleihen ab, die eine schlechte Bonität aufweisen. Würde bei den Zinsen wieder Normalität einkehren, dann würde sich der Bestand an faulen Krediten dramatisch vergrößern.

Wann könnte die italienische Krise offen ausbrechen?

Eigentlich ist sie bereits ausgebrochen. Nach den Wahlen in Italien sind die Spreads kräftig in die Höhe geschnellt. Die neue Regierung will die Steuern senken und gleichzeitig ein Sozialprogramm in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Das kostet mindestens 5 % des Bruttoinlandprodukts. Weitere 5 % wären als Zinsen hinzuzurechnen, wenn der Zinssatz wieder auf Normalniveau steigen würde. Dann läge das Defizit rechnerisch schon weit über 10 %. Ich sage damit nicht, dass das so kommen wird. Die Zinsnormalisierung werden die Schuldenländer mit ihrer Stimmenmehrheit im EZB-Rat schon zu verhindern wissen. Ich sage nur, was an potenziellen Problemen in der Luft hängt. Es zeichnet sich ein erheblicher Konflikt mit der EU-Kommission ab. Ich erwarte einen heißen Herbst, wenn die italienischen Verschuldungspläne und deren Finanzierungswünsche – Kredite und Transfers – in Brüssel auf den Tisch kommen. Erneute Austrittsdrohungen aus der Währungsunion sind nicht auszuschließen.

Die EZB-Geldpolitik hat die Zinsen gegen Null getrieben und im gesamten Euroraum sehen wir eine konjunkturelle Erholung. Haben die hoch verschuldeten Eurostaaten die Chance genutzt und ihre Schulden merklich reduziert sowie ihre Wirtschaften zu mehr Wettbewerbsfähigkeit umstrukturiert?

Man muss differenzieren: In Griechenland und Spanien ist die Wettbewerbsfähigkeit gestiegen, wenn auch lange nicht so weit, dass die Länder wieder aufatmen können. In Portugal und Italien ist dagegen gar nichts Messbares passiert. An der Entwicklung der Preise kann man die Wettbewerbsfähigkeit messen und da wurden in den letzten zehn Jahren sowohl in Italien aber auch in Portugal keine Fortschritte erzielt. In Relation zu Deutschland liegt das italienische Preisniveau heute noch immer um 38 % höher als 1995. Wie soll da exportiert werden?

Jüngst kündigte EZB-Präsident Mario Draghi an, die Anleihekäufe im letzten Quartal auf 15 Mrd. € je Monat zu halbieren und zum Jahresende 2018 zu beenden. Wie bewerten Sie diese Absicht?

Das ist zu begrüßen, aber längst überfällig. Aufkäufe von Anleihen hätten erst gar nicht geschehen dürfen. Die Käufe der Staatspapiere sind eine verbotene Staatsfinanzierung. Diese Politik verlässt den Boden solider Geldpolitik, weil sie fiskalisch motiviert ist: Die EZB rettet marode Bankensysteme und Staaten, die eigentlich zahlungsunfähig sind.

In Deutschland hat die Angst vor einem internationalen Handelskrieg zu einer Korrektur der Wachstumsprognosen nach unten geführt. Wird es zu einer konjunkturellen Abschwächung kommen?

Die jüngsten Umfragen des ifo Instituts haben eine deutliche Verschlechterung der immer noch prächtigen Geschäftserwartungen der Unternehmen gezeigt. Es ziehen dunklere Wolken heran, aber die Sonne scheint. Es kommt darauf an, wie man auf die Drohungen des USPräsidenten mit höheren Zöllen auf Automobilimporte in die USA reagieren wird. Der französische Wirtschaftsminister fordert, dass die EU mit höheren Zöllen antworten soll. Täte sie dies, würde sie einen verlustreichen Handelskrieg mit den USA riskieren. Die deutsche Automobilindustrie wäre besonders hart betroffen, weil der amerikanische Markt zu ihren wichtigsten Absatzmärkten zählt. Da die Autoindustrie hierzulande eine Schlüsselindustrie ist, würden auch weite Teile der deutschen Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen.

Rachezölle sind also keine wirkliche Option. Wie sollte die EU dann vorgehen?

Es wäre wesentlich besser, Amerikaner und Europäer würden an einer gemeinsamen Senkung der Zölle arbeiten. Die EU könnte sogar anbieten, dass sie die 10 %igen Zölle auf Autos abschafft, wenn die USA ihre Zölle in Höhe von 2,5 % fallen ließen. Mit Blick auf die Zwischenwahlen im USKongress Anfang Oktober könnte Trump die Abschaffung von Zöllen sogar als seinen Sieg verkaufen. Bei der geringen Zahl amerikanischer Autoimporte in Europa wäre ein Zollfortfall für uns kein großer Verlust.

Einen solchen Vorschlag hat der US-Botschafter in Berlin den deutschen Autobossen bereits unterbreitet. Die Bundeskanzlerin hat sich dann wohlwollend eingeschaltet, aber gesagt, dass Brüssel für solche Verhandlungen zuständig sei.

Frau Merkel weiß, dass sie die Brüsseler Zuständigkeit nicht offiziell infrage stellen darf. Aber unter der Hand wird sie hier sicherlich aktiv. Es hängt zu viel davon ab. In Brüssel ist man im Hinblick auf einen Handelskrieg mit den USA nicht so sensibel wie es Deutschland sein muss. Die meisten EU-Länder sind keine größeren Automobilexporteure.

Das Interview führte Dieter W. Heumann.

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