Hans-Werner Sinn über die Bringschuld der Ökonomen

Hans-Werner Sinn

Wirtschaftswoche, 26.09.2016, S. 76-77

Mein wichtigster akademischer Lehrer hieß Herbert Timm. Timm war ein Finanzwissenschaftler an der Universität Münster, Keynesianer der ersten Stunde, Vorsitzender des finanzwissenschaftlichen Beirats, Theoretiker, Praktiker, Wehrmachtsoffizier, Kriegsverweigerer, gefühlter Sozialdemokrat. Die Ordoliberalen waren ihm suspekt, weil zu salbungsvoll, doch die mikroökonomische Allokationspolitik und die Verteilungstheorie waren fester Bestandteil seiner Lehre. Die Erdnähe, Politikrelevanz, theoretische Stringenz und Unbestechlichkeit seiner Analyse waren mir stets ein Vorbild. "Betreiben Sie keine Glasperlenspiele" - so lautete das Motto, das er uns Studenten mitgab.

Der Volkswirt, wie Timm ihn verstand, arbeitet nicht in erster Linie als Philosoph, Mathematiker oder Ökonometriker, sondern als Sachwalter des Staates, ja des Volkes. Er soll dem Volk helfen, dafür erhält er ein aus Steuern bezahltes Gehalt. Herbert Giersch, langjähriger Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, sprach davon, dass Volkswirte eine "Bringschuld" gegenüber der Öffentlichkeit haben.

Als ich in jungen Jahren an meinen Theorien bastelte, hatte ich häufig ein schlechtes Gewissen, wenn ich an Timm dachte. Ich hoffe aber, dass ich seinem Motto in den späteren Jahren meiner beruflichen Karriere etwas mehr gerecht geworden bin. Gleichwohl verteidige ich das Recht junger Ökonomen, eben doch erst einmal die Theorie zu studieren - weil sie besser mathematisch denken können und die Theorie später als Kompass benötigen.

Ein guter Volkswirt muss sich in seiner Karriere zunächst eine feste theoretische Basis erarbeiten, bevor er sich an die institutionelle Wirklichkeit und die Zahlen herantraut, die häufig einem Dschungel gleichen, in dem man sich ohne den Kompass leicht verirrt. Ökonomische Fragen, insbesondere solche, die im Zusammenhang mit neuen, wichtigen Ereignissen auftauchen, betreffen oft Wirkungszusammenhänge, die im Nebel liegen. Irgendetwas passiert, man hat Indizien und Begleitumstände des Geschehens, aber man bringt die Puzzleteile nicht zusammen. Daten gibt es in der Regel nicht, weil Datensätze meistens im Hinblick auf konkrete Fragen erstellt werden, doch nicht im Vorfeld für Ereignisse, von denen man gar nicht weiß, dass sie auftreten können. Und selbst wenn empirisch forschenden Wissenschaftlern später Daten zur Verfügung stehen, erkennt man in ihnen nichts, wenn man nicht mit einer Theorie im Kopf nach Mustern zu suchen vermag.

Echte volkswirtschaftliche Forschung ist Detektivarbeit. Man entwickelt Hypothesen, verwirft sie und tastet sich allmählich an das Geschehen heran, bis man es verstanden hat und in der Lage ist, seine Erkenntnisse anderen widerspruchsfrei mitzuteilen. Schafft man das nicht, hat man den Sachverhalt meist selbst noch nicht richtig verstanden. Erst wenn Ökonomen einen Sachverhalt durchdrungen und die Wirkungszusammenhänge entschlüsselt haben, sollten sie Politikempfehlungen abgeben. Der Volkswirt soll sich öffentlich äußern, aber seine Meinung ist unnütz, wenn er zu dem jeweiligen Phänomen nicht geforscht oder gelehrt hat. In diesem Fall äußert er sich bestenfalls als Staatsbürger, so wie es jeder andere auch könnte. Wer sich zu vielen Themen öffentlich äußert, sollte auch über viele Themen in seinem akademischen Leben geforscht oder zumindest gelehrt haben. Eine Handvoll Publikationen in Fachjournalen allein ist noch kein Nachweis für einen verantwortlichen Umgang mit dem Vertrauen, das ihm die Öffentlichkeitentgegenbringt.

Die Volkswirte, die im 19. Jahrhundert Bismarcks Sozialreformen vorbereiteten, nannte man Kathedersozialisten, weil sie sich einmischten, um Deutschland mit vorauseilenden Sozialreformen vor der befürchteten Revolution zu schützen. Max Weber hatte recht, als er sie wegen ihrer eigenmächtigen Werturteile kritisierte. Indes teilte er die Auffassung, dass die Theorie sich mit Fragen von gesellschaftlicher Relevanz beschäftigen soll. Webers Unterscheidung zwischen Mitteln und Zielen der Politik ist noch heute essenziell für die Arbeitsweise des Faches. Die Politik gibt die Ziele vor, doch der Volkswirt diskutiert die Mittel, mit denen er sie erreichen kann, ohne sie selbst einer moralischen Bewertung zu unterwerfen.

Wenn Politiker, Journalisten und Wissenschaftler bereits die Mittel moralisierend diskutieren (insofern also gesinnungsethisch argumentieren), haben sie meistes keine Ahnung vom Sachverhalt. Es gibt aber auch das andere Extrem: Wenn Forscher gar keine Politikempfehlung von sich geben, weil sie sich allein der Erkenntnis verschrieben haben oder ihre Ergebnisse politisch irrelevant sind, müssen sie sich fragen, wofür sie der Steuerzahler eigentlich bezahlt.

Die Volkswirtschaftslehre ist kein leichtes Fach. Die Wirkungsketten sind komplex. Analytische Fehler findet man zuhauf. Es gibt viele schlechte Volkswirte auf der Welt, aber auch viele gute (und natürlich solche, die sich selbst für gut halten). Die Leistung des Fachs besteht darin, dass sich Volkswirte nach einer hinreichend langen Diskussion mit anfangs unterschiedlichen Meinungen am Ende häufig einigen können. Es gibt in unserem Fach so etwas wie objektiv richtige und falsche Argumente. Wenn Volkswirte in der Öffentlichkeit den Eindruck einer Kakofonie erwecken (oder dieser Eindruck gezielt von Kritikern geschürt wird), liegt das meist nicht an Meinungsverschiedenheiten über konkrete Argumente und Wirkungsketten, sondern an Unterschieden in der Gewichtung derselben, die naturgemäß subjektiven Charakter hat.

Die Zeitschrift "Der Volkswirt" und die aus ihm hervorgegangene WirtschaftsWoche waren in all den Jahren ein Forum, das uns Volkswirten für die Präsentation politikrelevanter Forschungsergebnisse offenstand. Hier konnten (und können) wir mit unserem theoretischen Hintergrundwissen Politikmaßnahmen kommentieren. Das hat uns Wirtschaftswissenschaftlern geholfen, bloße ökonomische Glasperlenspiele zu vermeiden - und unserer gesellschaftlichen Aufgabe gerecht zu werden.

Nachzulesen bei: www.wiwo.de