Das unsichtbare Bail-Out der EZB

Hans-Werner Sinn

oekonomenstimme.org, 11. Juni 2011.

Die Parlamente der Staaten der Eurozone ringen um einen zukünftigen europäischen Stabilisierungsmechanismus, und sie hoffen, dass ein Rettungspaket von 700 Mrd. Euro die Probleme der europäischen Peripherieländer ein für alle mal lösen wird. Sie sollten aber wissen, dass sie nicht die ersten sind, die ein solches Paket schnüren. Ihr Paket wird lediglich das der EZB ablösen, das einen Umfang von mehr als 300 Mrd. Euro hat und bereits im vierten Jahr läuft (mehr zu den Target-Krediten, den Leistungsbilanzsalden und dem Kapitalverkehr findet sich im ifo Working Paper Nr. 105).

Das Rettungspaket der EZB zeigt sich in den sogenannten Target-Salden der nationalen Zentralbanken, speziell den Target-Verbindlichkeiten der GIPS-Länder (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien). Target ist eine Abkürzung für “Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System”. Auf den ersten Blick scheint Target ein irrelevanter technischer Teil der täglichen Geldtransfers zwischen Banken innerhalb der Eurozone zu sein – nicht mehr als ein Abwicklungssystem für Inter-Bankentransaktionen. Dieser Eindruck ist aber falsch.

  • Die negativen Target-Salden der GIPS-Länder messen den Teil der Zentralbankgeldschöpfung in diesen Ländern, der nicht für die Geldzirkulation in diesen Ländern, sondern für den Erwerb eines Nettozustroms von Waren und Vermögensobjekten aus anderen Euroländern verwendet wurde.
  • Sie sind Schulden gegenüber dem EZB-System, denen Forderungen anderer Länder gegenüber der EZB, allen voran Deutschlands, gegenüber stehen. Ausfälle werden gemeinschaftlich von den Euro-Ländern nach ihrem Kapitalschlüssel getragen. Damit ähneln sie kurzfristigen Eurobonds.
  • Die Höhe der Target-Kredite übersteigt bei weitem die von den Parlamenten gebilligten Kredite zur Rettung Griechenlands, Irlands und Portugals.

Wie die Target-Salden entstehen

Wie die Target-Salden zustande kommen, ist etwas undurchsichtig, weil es dazu keine offiziellen Beschreibungen gibt. Sie tauchen ja auch noch nicht einmal in der Bilanz der EZB auf, sondern nur in den Bilanzen der einzelnen Notenbanken. Betrachten wir das Beispiel der irischen Notenbank, um den Sachverhalt klar zu machen. Die irische Notenbank muss, wie jede Bank auf der Welt, ihre Aktiva und ihre Verbindlichkeiten in Einklang bringen.

  • Die hauptsächlichen Aktiva sind einerseits Gold- und Währungsreserven, andererseits Kreditforderungen gegenüber den Geschäftsbanken, die zumeist mit Sicherheiten unterlegt sind.
  • Ihre Passiva bestehen aus der Euro-Geldmenge, die sie geschöpft hat. Das sind einerseits die Euroreserven der irischen Geschäftsbanken, die als Guthaben dieser Geschäftsbanken bei der irischen Notenbank liegen, und andererseits Bargeld, das in Irland ausgegeben wurde.

Wenn nun die Iren mehr Geld außer Landes transferieren, als sie von dort erhalten, weil sie im Ausland mehr Güter oder Vermögensobjekte erwerben, als sie dorthin verkaufen, wird per Saldo in Irland Geld vernichtet. Die Passivseite der irischen Notenbank schrumpft, ohne dass sich die Aktivseite ändert. Umgekehrt ist es in dem Euroland, wo das Geld hinfließt, sagen wir Deutschland. Die Bundesbank muss nämlich den Zahlungsvorgang durchführen und dazu mehr Geld schöpfen, ohne dass sie dafür mehr Forderungen gegenüber den deutschen Geschäftsbanken erhält. Sie hat daher zu hohe Passiva, und die irische Zentralbank hat zu geringe Passiva. Die Target-Salden gleichen nun diese Unterschiede aus. Bei der irischen Zentralbank wird eine Schuld gegenüber dem Eurosystem eingetragen, und die Bundesbank, die im Auftrag der irischen Zentralbank neues Geld schöpfen muss, erhält eine Forderung gegenüber dem Eurosystem. Die kumulierte Nettovernichtung von Geld in Irland, die durch die Zahlungsvorgänge ausgelöst wird, entspricht daher der irischen Target-Schuld. Das Pendant dazu ist die kumulierte Nettogeldschöpfung durch die Bundesbank, die zu einer deutschen Target-Forderung führt. Forderungen und Schulden bestehen immer gegenüber dem Eurosystem als Ganzem. Für die Target-Schulden muss die irische Notenbank Zinsen an die EZB zahlen, und umgekehrt erhält die Bundesbank von der EZB Zinsen. Die Zinsen werden den Forderungen und Schulden periodisch zugeschlagen. Die Bundesbank erhält die Zinsen, weil sie ihren Geschäftsbanken im Zuge der Überweisungsvorgänge Geld zur Verfügung stellen musste, ohne dafür einen verzinslichen Kredit zu vergeben, wie es bei Refinanzierungsmaßnahmen der Fall wäre. Und die irische Notenbank muss sich die Zinsen anrechnen lassen, weil Iren in die Lage versetzt wurden, Güter und/oder Vermögensobjekte per Kredit in anderen Euroländern zu kaufen, wofür die irische Wirtschaft auch hätte Zinsen zahlen müssen, wenn sie sich am privaten Kapitalmarkt finanziert hätte.

Bei der Vergrößerung von Target-Salden handelt es sich um internationale Kredite im Eurosystem, die von einer Gruppe von Zentralbanken an eine andere Gruppe von Zentralbanken gegeben werden und die deshalb in den Außenhandelsstatistiken von Eurostat als Kapitalexporte und Kapitalimporte verbucht werden. Bei der Gruppe der Zentralbanken, die den Kredit empfangen haben, handelt es sich im Wesentlichen um die GIPS-Länder, und bei der „Gruppe“ der anderen Zentralbanken handelt es sich vor allem um die Bundesbank. Der gemeinschaftlich abgesicherte Kredit, der von der Bundesbank über das EZB-System an die GIPS-Länder floss, hat sich erst in den letzten vier Jahren, also während der Finanzkrise aufgebaut und liegt bei über 300 Milliarden Euro.

Es handelt sich dabei nicht nur im Rechnungssystem der Notenbanken und der europäischen Statistikbehörde, sondern tatsächlich auch aus ökonomischer Sicht um einen Kredit, denn das Verfügungsrecht über Waren und Vermögengüter, das von der Bundesbank der deutschen Wirtschaft inflationsfrei hätte zur Verfügung gestellt werden können, wurde nun von ihr auf dem Wege über die EZB, abgesichert über alle Teilnehmerländer, der Wirtschaft der GIPS-Länder zur Verfügung gestellt.

Der Kreditfluss, der jährlich über das Zentralbankensystem an die GIPS-Länder lief und durch die Änderung der Target-Salden gemessen wird, ist definitorisch gleich der Summe der Leistungsbilanzdefizite dieser Länder abzüglich der privaten Nettokapitalzuflüsse in diese Länder oder, mathematisch äquivalent, die Summe der Leistungsbilanzdefizite zuzüglich der privaten Nettokapitalabflüsse aus diesen Ländern.

Vor der Finanzkrise waren die Target-Salden praktisch null, weil die Leistungsbilanzdefizite der GIPS-Länder mehr oder weniger vollständig durch private Kapitalzuflüsse finanziert wurden. Ausländer erwarben netto so viele Vermögenstitel in den GIPS-Ländern, wie die Wirtschaftssubjekte der GIPS-Länder netto an Gütern in den anderen Euroländern erwarben. In der Finanzkrise versiegte jedoch der private Kapitalzustrom und änderte bisweilen, so vor allem in Irland, sogar seine Richtung: Obwohl man netto gerechnet ökonomische Güter im Ausland erwarb, floss Kapital aus dem Land heraus. In dieser Situation sicherten die Kreditflüsse über das EZB-System die

Leistungsbilanzdefizite. Der öffentliche Kreditstrom kompensierte den privaten Kreditstrom und ermöglichte es den GIPS-Ländern weiterhin, ihren Importüberhang und damit ihren Lebensstandard zu finanzieren. Mittlerweile scheint es Irland nach einer bereits recht massiven realen Abwertung zu gelingen, Leistungsbilanzüberschüsse zu erzielen. Ein Ende der privaten Kapitalexporte ist aber noch nicht klar erkennbar. Die anderen GIPS-Länder haben nach wie vor hohe, wenn nicht exorbitante Leistungsbilanzdefizite, so vor allem Griechenland und Portugal (beide über 10% des BIP).

Ein detailliertes Beispiel

Das Entstehen der Target-Kredite kann am Beispiel eines irischen Bauern illustriert werden, der seine Bank um einen Kredit bittet, um damit einen Traktor in Deutschland zu kaufen. Wer will, kann an die Stelle eines Bauern auch einen Vermögensbesitzer setzen, der ein Wertpapier in Deutschland kauft. Der Zahlungsvorgang ist derselbe. Da sich die Bank des Bauern von anderen europäischen Banken kein Geld leihen kann oder wenn, dann nur zu sehr hohen Zinsaufschlägen, wendet sie sich an die irische Zentralbank, die für diesen Zweck neues Geld druckt. Dieses Geld erhält der Bauer. Der Bauer überweist das Geld sodann durch das Zentralbanksystem an den deutschen Produzenten. Dadurch verringert sich die irische Geldmenge wieder auf das Normalmaß, während die von der Bundesbank bereit gestellte Geldmenge um diesen Betrag zunächst ansteigt.

Die Banken in Deutschland wollen und brauchen jedoch nicht mehr Zentralbankgeld, denn bei gegebenem Zins der Zentralbank, gegebenen Zahlungssitten und gegebener Wirtschaftsleistung benötigen sie nur eine bestimmte Menge Zentralbankgeldes. Sie können sich zwar zum Refinanzierungssatz der EZB so viel neu geschöpftes Geld leihen, wie sie wollen, sie wollen es aber nicht. Das Geldangebot der Zentralbank ist wegen der Vollzuteilungspolitik unendlich elastisch, doch die Nachfrage nach Geld ist begrenzt. Deswegen verdrängt das durch die internationalen Zahlungsvorgänge hereinströmende Geld jenes Geld, das die Bundesbank auf dem Wege der Kreditvergabe noch schöpfen kann. Die Verdrängung erfolgt nicht notwendigerweise, aber sie ist der bei gegebenen Zinsen, Zahlungssitten und Wirtschaftsleistungen zu erwartende Normalfall. Die Konsequenz ist, dass die Gesamtmenge an Kredit, die in Deutschland von der EZB zur Verfügung gestellt wird, fällt, während sie in Irland steigt. Insgesamt ändert sich durch den Vorgang weder die Geldmenge, die in Irland zirkuliert, noch jene in Deutschland.

Wenn die EZB irgendwann einmal wieder von ihrer Vollzuteilungspolitik Abstand nehmen sollte, wird sich an diesem Sachverhalt nichts ändern. Selbst wenn die Geldmenge von ihr fixiert wird und sie feste Tender versteigert, werden sich die Geschäftsbanken der GIPS-Länder gegenüber den Geschäftsbanken der anderen Euroländer durchsetzten, solange das Vertrauen der Märkte nicht wiederhergestellt ist. Da sie auf dem Interbankenmarkt hohe Zinsaufschläge zahlen müssen, werden sie die Geschäftsbanken der soliden Euroländer, die sich leichter am Markt finanzieren können, jederzeit ausstechen. Die unsoliden Geschäftsbanken verdrängen stets die soliden, da die Zentralbank bei der Geldvergabe das Konkursrisiko im Gegensatz zu den Kapitalmärkten nicht bei der Zinsbemessung berücksichtigt. Bei den Versteigerungen der EZB würde eine Art Greshamshes Gesetz der Geldzuteilungen gelten. Die EZB hätte natürlich die Möglichkeit, dieser Entwicklung durch eine entsprechende Erhöhung der Sicherheiten, die sie von den Banken verlangt, konkret eine Vergrößerung der Abschläge auf die Sicherheiten, die sie schon heute vornimmt, entgegen zu wirken. Ob sie das in hinreichendem Umfang tun würde, ist aber fraglich. Ihr heutiges Verhalten gibt zu dieser Vermutung keinen Anlass, denn mit der Zusatzkreditvergabe an die GIPS-Länder, wie sie durch die Target-Salden gemessen wird, hat sie zugleich ihre Bonitätsanforderungen bei den eingereichten Sicherheiten in erheblichem Umfang verringert.

Aber zurück zum Beispiel des Bauern: Wie oben beschrieben, verbucht die Bundesbank zum Ausgleich für das „Gelddrucken“ eine verzinsliche Target-Forderung an die Europäische Zentralbank (EZB), die EZB an die irische Zentralbank und die irische Zentralbank an die irische Geschäftsbank, die wiederum eine Forderung an den irischen Bauern hält. Obwohl sich die Geldmenge weder in Irland noch in Deutschland verändert hat, erhält der irische Bauer den Traktor über einen Kredit der Bundesbank auf Kosten von Krediten an die deutsche Wirtschaft. Im Ergebnis ist dies ein erzwungener Kapitalexport von Deutschland nach Irland. Hätte sich der irische Bauer das Geld privat in Deutschland geliehen, wären keine Target-Salden entstanden. Sie wären gleich null, wie das praktisch von 1999 bis 2006, vor dem Ausbruch der Finanzkrise, der Fall war. Aber sind derzeit nicht null.

Die Größe des Problems

Die Target-Salden der Bundesbank sind in jüngster Zeit um fast 100 Mrd. Euro pro Jahr gestiegen, da die Privatinvestoren das Leistungsbilanzdefizit der GIPS-Staaten (Griechenland, Irland Portugal, Spanien) nicht mehr finanzieren wollten und, wie erläutert, zum Teil sogar mit ihrem Kapital aus den GIPS-Ländern herausgegangen sind. Die Target-Salden der GIPS-Länder erhöhten sich von minus 30 Mrd. Euro Mitte 2007, als der Interbankenmarkt das erste Mal zusammenbrach, auf 344 Mrd. Euro Ende 2010, während sich ihre akkumulierten Leistungsbilanzdefizite von 2008 bis Ende 2010 auf 365 Mrd. Euro beliefen. Umgekehrt stiegen die Target-Forderungen der Bundesbank auf 326 Mrd. Euro. Die Gleichheit zwischen Target-Salden und Leistungsbilanzsalden ist sicher keine direkte Korrelation, denn sie entstehen sich ja durch die Summe von Leistungsbilanzsalden und Nettokapitalabflüssen, und letztere sind in der Regel nicht null. Aus Irland gab es in den letzten Jahren einen erheblichen Nettokapitalabfluss, der zu den Leistungsbilanzdefiziten hinzutrat, und Spanien verzeichnete trotz der Krise einen gewissen Nettokapitalzufluss, der einen Teil der Leistungsbilanzsalden finanzierte. Dennoch stimmt die Aussage, dass die GIPS-Länder in ihrer Gesamtheit im angegebenen Zeitraum nur unerhebliche private Netto-Kapitalflüsse mit dem Rest des Euroraums hatten, während zugleich riesige Leistungsbilanzdefizite vom EZB-System, faktisch von der Bundesbank, finanziert wurden. Das war ein Bailout, lange bevor die nationalen Parlamente es merkten. Er ermöglichte es den GIPS-Staaten, weiterhin über ihre Verhältnisse zu leben.

Krisenmanagement versus langfristiger Bail-Out

Der Bailout durch die EZB war nicht grundsätzlich falsch. Er war auf dem Höhepunkt der Krise gerechtfertigt, weil sich die Parlamente Europas auf die Schnelle nicht hätten auf Hilfsprogramme einigen können. Ein Glück, dass es den Spielraum für Target-Kredite gab, den die EZB genutzt hat.

Indes wird die Kreditersatzpolitik nun schon im vierten Jahr betrieben. Schon viel früher hätte es die Möglichkeit gegeben, die Kreditvergabe der Bundesbank über das EZB-System, die faktisch einem Kauf von kurzfristigen Eurobonds gleichkam, der Verantwortung der Parlamente zu übergeben. Damit hat die EZB dazu beigetragen, die Kapitalströme in Europa zu perpetuieren, den Lebensstandard in den GIPS-Staaten gegenüber dem, was die Märkte getan hätten, zu erhalten und die Anpassung an die neuen Realitäten zu verzögern.

Die Verschiebung der Geldschöpfung ist begrenzt durch die Geldmenge

Wie auch immer man diesen Vorgang bewerten möchte: In jedem Fall können die Ersatzkredite der EZB bald nicht mehr inflationsfrei erhöht werden. Sollte den GIPS-Staaten jedes Jahr weitere 100 Mrd. Euro an neuen Target-Krediten gewährt werden, würden die anderen Euro-Länder eine entsprechende Verminderung im Bestand ihrer Zentralbankkredite verzeichnen. Jahr für Jahr würde das von den GIPS-Staaten in die übrigen Euroländer fließende Geld das dort per Kredit geschaffene Zentralbankgeld verdrängen.

Bis Ende 2010 hatte sich der Bestand an EZB Krediten in den anderen Euroländern auf fast 184 Mrd. Euro verringert, während er in den GIPS-Staaten auf 383 Mrd. Euro bzw. 68% der Gesamtsumme, angestiegen war, obwohl der Anteil der GIPS-Staaten am BIP der Eurozone lediglich 18% beträgt. Wenn weiterhin jährlich 100 Mrd. Euro Zentralbankkredit in die GIPS-Staaten fließen, kann diese Politik offensichtlich höchstens noch zwei weitere Jahre fortgesetzt werden.

Warum die EZB den Luxemburger Fonds fordert

Die Situation erinnert an das Jahr 1992, als das Pfund Sterling zusammenbrach, weil die englische Zentralbank weniger D-Mark und Francs zu verkaufen hatte, als George Soros kaufen wollte. Die Gefahr ist natürlich nicht, dass der Euro zusammenbricht. Wohl aber sind Inflationsgefahren in Sicht, denn wenn die EZB mit ihrer Zusatzkreditvergabe an die Südländer fortfahren möchte, wie sie durch die Target-Salden gemessen wird, kommt es in Deutschland nicht mehr zur automatischen Sterilisierung der Geldzuflüsse aus den GIPS-Ländern. Die Bundesbank könnte zwar ihre Gold- und Währungsbestände verkaufen, aber das würde in der Öffentlichkeit einen Aufschrei hervorrufen. Im Übrigen würde die EZB auch dann höchstens weitere sechs Jahre Zeit gewinnen; im Jahr 2018 wäre auch diese Politik am Ende, weil die Goldreserven dann aufgebraucht wären. Danach könnte sie die zusätzliche Geldschöpfung in den GIPS-Ländern nicht mehr durch einen Entzug von Geld aus der restlichen Eurozone ausgleichen. Spätestens dann würde die Zusatz-Geldschöpfung in den GIPS-Staaten eine Inflation der Geldmenge im Euroraum erzwingen, was dann möglicherweise auch eine Preisinflation hervorrufen würde.

Weil es unmöglich ist, die Kreditersatzpolitik fortzusetzen, bedrängt die EZB die europäische Staatengemeinschaft seit dem Mai des Jahres 2010, sie durch ein europäisches Rettungssystem abzulösen. Und das mag auch erklären, warum Deutschland sich dem Druck beugte und bereit war, von der Staatengemeinschaft garantierte Kredite über den EFSF und nun auch den neuen ESM, also die Luxemburger Zweckgesellschaft der Euroländer, zu schleusen.

Es ist Zeit voranzuschreiten

Es ist in der Tat höchste Zeit, die Kreditersatzpolitik der EZB zu beenden. Dies könnte beispielsweise durch die Anwendung der US-amerikanischen Regeln geschehen. Dort müssen die Salden im Interdistrict Settlement Account, die den Target-Salden entsprechen, einmal im Jahr mit goldgedeckten Wertpapieren oder ähnlich sicheren handelbaren Wertpapieren ausgeglichen werden. In den USA verhindert diese Regelung, dass ein Distrikt der Fed (davon gibt es 12) über die innere Geldzirkulation hinaus Geld drucken kann, mit dem die Wirtschaftssubjekte dieses Distrikts per Saldo Güter oder Vermögensobjekte in den anderen Distrikten erwerben können. Wenn die Wirtschaftssubjekte eines Distrikts mehr Güter importieren möchten, als sie exportieren, müssen sie private Geldgeber in den anderen Distrikten finden, die die Finanzierung übernehmen. Und wenn diese Wirtschaftssubjekte netto Vermögensobjekte in anderen Distrikten erwerben möchten, müssen sie das Geld dazu durch den Nettoexport von Gütern verdienen. Da die Eurozone noch lange nicht ein den USA vergleichbares Ausmaß an staatlicher Integration erreicht hat, erscheint es als wenig plausibel, dass die EZB ein generöseres interregionales Kreditsystem als die Fed betreibt. Wenn das amerikanische System übernommen würde, wären die GIPS Banken gezwungen, die nötige Finanzierung auf dem privaten Markt zu suchen, und die Volkswirtschaften der GIPS-Staaten müssten ihre Leistungsbilanzdefizite auf das Maß reduzieren, das private Kapitalgeber zu finanzieren bereit wären.

Einige europäische Länder wollen aber lieber die EZB-Politik inhaltlich noch weiter ausweiten, indem sie Eurobonds einführen. Wie erläutert kommt ja die Kreditersatzpolitik der EZB faktisch bereits einer Vergabe von Eurobonds nahe, denn im Hinblick auf den Kreditfluss, die Implikationen für die Geldversorgung und die Haftung sind alle Sachverhalte ökonomisch sehr ähnlich. Der einzige wichtige Unterschied ist, dass bei der EZB-Politik Eurobonds nicht anonym von irgendwelchen Marktteilnehmern, sondern faktisch von der Bundesrepublik Deutschland gekauft wurden. Obwohl eine solche Ausweitung auf echte Eurobonds den Anstieg der Target-Kredite ersetzen und insofern beenden würde, könnten die Leistungsbilanzdefizite Griechenlands, Portugals und Spaniens weiterhin finanziert werden. Entsprechend würde sich der Anreiz, die notwendigen Reformen durchzuführen, verringern. Die Auslandsschulden diese Länder würden dann allerdings Jahr um Jahr ansteigen, und es käme im Endeffekt entweder zu einem Zusammenbruch des Eurosystems oder zu einer europäischen Transferunion. Je länger die Droge des billigen Geldes eingenommen wird, desto schmerzlicher wird später der Entzug. Ein zu langes Warten macht eine Heilung unmöglich.

©KOF ETH Zürich, 11. Jun. 2011

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