Wer aus der EU austreten will, soll das können

Die Mitgliedschaft muss freiwillig sein, sagt Top-Ökonom Sinn. Er fordert aber, dass Deutschland auf neue Verhandlungen mit den Briten dringt.
Hans-Werner Sinn

Die Welt, 14. September 2019, S. 10.

Um Hans-Werner Sinn ist es stiller geworden, seit der Ökonom nicht mehr Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) ist. Ruhestand ist bei dem 71-Jährigen allerdings nicht angesagt: Nicht mehr eingeschränkt durch das Tagesgeschäft hält er Vorträge, forscht und arbeitet an einem neuen Buch. Die Zukunft der Europäischen Union treibt den Ökonomen noch immer um. Und noch etwas ist wie gehabt: Seine Standpunkte unterscheiden sich teilweise immer noch stark vom Mainstream.

Berlin und Brüssel haben sich offenbar weitgehend damit abgefunden, dass Großbritannien die EU verlässt. Immer häufiger hört man, dass es gut sei, wenn das Brexit-Wirrwarr ein Ende finde, gleich welches. Hat der Brexit zurecht seinen Schrecken verloren?

Der Brexit ist furchtbar. Die einen reden den Brexit klein und die anderen freuen sich insgeheim, weil sie die Briten ohnehin nicht in der EU haben wollen. Vor allem Frankreich will eine andere EU, als sie die Briten verfolgt haben. Ich werde den Eindruck nicht los, der Brexit kommt Macron ganz gelegen.

Und aus deutscher Sicht?

Für Deutschland ist der Brexit eine mittlere Katastrophe. Die Briten waren und sind auf europäischer Ebene die Partner der Deutschen in vielen Konflikten, etwa bei der Wettbewerbspolitik oder beim Außenhandel. Auch beim Thema Umverteilung ticken die Briten wie wir.

In der Tat haben die Briten Deutschland auf europäischer Ebene häufig unterstützt – wenn auch nicht bei allen Themen.

Natürlich, bei anderen Themen ist Deutschland näher an anderen Mitgliedsstaaten. Aber aus Sicht der Deutschen waren die Briten immer ein Korrektiv gegen überzogene oder falsche Vorstellungen wie sie in Frankreich oder Südeuropa vorherrschen, etwa wenn es um höhere Staatsausgaben oder mehr staatlichen Dirigismus geht. Wer weiß, wie sich die EU entwickelt hätte, wenn Großbritannien kein Mitglied gewesen wäre. Und eines dürfen Sie nicht vergessen: Mit Großbritannien hatten wir zwei Atommächte in der EU. Dass wir künftig mit Frankreich nur noch einen Atommonopolisten in der EU haben, erhöht den politischen Preis, den wir für den Schutz zahlen müssen.

Berlin sollte also die EU-Kommission drängen, einen Austritt doch noch zu verhindern?

Deutschland sollte auf jeden Fall darauf dringen, dass die EU London noch einmal Verhandlungen anbietet. Boris Johnson hat, ohne es zu wollen, die Büchse nochmals aufgemacht und nun die Gegner des harten Brexits vereint. In dieser kritischen Phase sollte die EU in letzter Sekunde noch einmal an das britische Volk herantreten mit einem ganz konkreten Angebot - nämlich darüber zu verhandeln, wie die EU so verändert werden kann, dass die Briten auch künftig noch gerne Mitglied bleiben.

Dann dürfte es vor allem um das heikle Thema Migration gehen.

Ja, es geht den Briten darum, dass sie nicht weiter ein Magnet für Sozialmigranten aus Osteuropa sind. Das muss Deutschland doch auch wollen. Die Interessen von Berlin und London liegen deshalb gar nicht weit auseinander. Die Freizügigkeit in der Europäischen Union ist eine großartige Errungenschaft, aber sie ist schädlich, wenn sie zur Einwanderung in die Sozialsysteme führt. Diesen Sozialmagneten sollte die EU durch eine verzögerte Integration von EU-Migranten in die Sozialsysteme ausschalten.

Wie soll das funktionieren?

Wir müssen künftig unterscheiden zwischen Leistungen, die man sich durch Arbeit erworben hat, und Sozialleistungen, auf die wir qua Geburt ein Recht haben. Nur erarbeitete Leistungen wie Rente oder Zahlungen aus der Arbeitslosenversicherung, Unfallversicherung und Ähnliches sollten von den Gastländern gezahlt werden. Aber die Leistungen des Sozialstaats, die nichts mit einem Arbeitsverhältnis zu tun haben und nicht als Versicherungsleistungen anzusehen sind, sollten Sache des Geburtslandes bleiben. Das ist allen Betroffenen gegenüber nur fair; schließlich sind alle Länder, über die wir reden, EU-Mitglieder, sollten also soziale Mindeststandards haben.  

Wenn Brüssel anfängt, mit Großbritannien darüber zu diskutieren, was für eine EU die Briten gerne hätten, dürfte schon sehr bald das nächste Land um die Ecke biegen, das mit einem Austritt droht, wenn nicht diese oder jene EU-Politik neu formuliert wird. Die harte Linie der EU-Kommission gegenüber London gründet schließlich auch in der Angst vor solchen Nachahmern.

Na und? Wer aus der EU austreten will, soll das können. Langfristig stabil ist die EU nur, wenn jeder gerne freiwillig mitmacht. Diese Angst vor Nachahmern kann ich nicht nachvollziehen. Das führt doch auch zu dieser irrsinnigen Haltung, dass man die Briten geradezu dafür bestrafen will, dass sie austreten. Was ist das für eine Union, in der diejenigen, die austreten, bestraft werden? Das kenne ich sonst nur aus Gefängnissen. Die EU sollte ein freiwilliger Zusammenschluss mündiger selbständiger Demokratien sein, die zum gegenseitigen Nutzen zusammenkommen. Wenn ein Land das Gefühl hat, von der EU-Mitgliedschaft keinen Vorteil zu haben, dann ist etwas faul am System.

Wollen Sie sagen, Großbritannien habe nicht von der EU-Mitgliedschaft profitiert?

Nein, das nicht. Die Briten haben von der Mitgliedschaft in der EU enorm profitiert und machen mit dem Brexit einen Riesenfehler. Die britische Politik hat das Migrationsthema und die damit verbundenen Probleme einfach riesig überzogen. Ich bedauere sehr, dass die Briten austreten und ich bin ein großer Freund der europäischen Einigung. Aber die britische Kritik an der EU, die schließlich für das Brexit-Votum gesorgt hat, war berechtigt. Wir sollten den Briten zuhören und sie fragen, was sie an der EU stört. Aber wir sollten ihnen nicht entgegenkommen, damit ihnen der Austritt leichter fällt und sie den Austrittsvertrag unterschreiben.

Die EZB kämpft seit Jahren mit ultraniedrigen Zinsen gegen die Stagnation in der Euro-Zone. Jetzt geht die Furcht vor Minuszinsen um. Ist die Angst berechtigt?

Ich habe große Angst vor Minuszinsen. Das wirbelt die gesamte Wirtschaft durcheinander mit schlimmen Folgen für den Wohlstand Europas. Schon die sehr niedrigen Zinsen im Moment sorgen dafür, dass Firmen, die eigentlich schon längst pleite sind, weiterleben und sich so breit machen, dass für neue innovativere Firmen kein Raum bleibt. Das sorgt dafür, dass die Wirtschaft stagniert und dahinsiecht. Dazu kommt die Verteilungswirkung zulasten der Sparer: Vor allem Menschen, die mit Lebensversicherungen und betrieblicher Altersversicherung fürs Alter vorgesorgt haben, droht bei Minuszinsen Altersarmut.

Japan hat schon seit Jahrzehnten ultraniedrige Zinsen und die haben dort bisher nicht für katastrophale Zustände gesorgt.

Negative Zinsen werden auch bei uns keine Katastrophe verursachen, sondern nur schleichendes Siechtum. Die Minuszinsen sollen ja die Katastrophe abwenden, indem alles gerettet wird. Aber eine Marktwirtschaft lebt davon, dass nicht alle gerettet werden, sie lebt vom Strukturwandel. In den Anfangsjahren der industriellen Revolution waren 85 Prozent aller Menschen in Deutschland Bauern. Überlegen Sie nur, wieviel Wohlstand und Fortschritt seitdem geschaffen wurden.

Das Interview führte Tobias Kaiser.

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