Die EZB betreibt Konkursverschleppung

Der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn warnt vor einer gewaltigen Kapitalflucht aus Griechenland. Die Vermögenden, so sein Vorwurf, nutzen dazu die Notfallkredite der Europäischen Zentralbank.
Hans-Werner Sinn

Süddeutsche Zeitung, 10. Februar 2015, S. 18.

Die Kapitalflucht aus Griechenland ist voll im Gange. Die Leute horten Euro-Bargeld unter der Matratze, vergraben es und transportieren es im Koffer außer Landes. Vor allem aber überweisen reiche Griechen, Banken und internationale Anleger ihr Geld ins Ausland, solange es noch geht.

Allein im Dezember 2014 sind netto 7,6 Milliarden Euro oder 4,1 Prozent des griechischen Bruttoinlandsprodukts ins Ausland überwiesen worden, was man am Anstieg der griechischen Target-Schulden erkennen kann, also den Verbindlichkeiten der griechischen Notenbank gegenüber der Europäischen Zentralbank. Das war der größte Anstieg seit Mai 2011. Im neuen Jahr dürfte sich die Kapitalflucht angesichts der Wahlergebnisse nochmals erheblich beschleunigt haben, insbesondere jetzt, nachdem die griechische Regierung in den Hauptstädten mit ihrem Verlangen nach neuem Geld abgeblitzt ist.

Der griechische Target-Saldo für den Januar ist zwar noch nicht veröffentlicht worden, doch ist am Freitag bekannt geworden, dass die deutschen Target-Forderungen, also die Forderungen der Bundesbank gegenüber der EZB, im Januar um 55 Milliarden Euro angestiegen sind. Das ist der dritthöchste Anstieg seit Ausbruch der Finanzkrise vor acht Jahren. Er zeigt eine riesige Kapitalflucht nach Deutschland an. Das in Deutschland ankommende Fluchtgeld kann aus vielen Quellen stammen, doch vermutlich kommt ein erklecklicher Teil aus Griechenland. Es heißt nun, auf der Hut zu sein, damit nicht wieder dasselbe passiert wie seinerzeit in Zypern.

Zypern war im Jahr 2012 in einer ähnlichen Situation wie Griechenland heute. Als inländische Vermögensbesitzer und ausländische Anleger, allen voran deutsche Banken, russische Oligarchen sowie Investoren aus Athen und London versuchten, ihr Geld im Ausland in Sicherheit zu bringen, schuf die zyprische Notenbank für 11 Milliarden Euro oder 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukt neues Geld, um die Banken trotz der entsprechenden Überweisungen liquide zu halten. Das war Fluchthilfe, denn ohne dieses Geld wären die Banken insolvent gewesen, und das Kapital hätte das Land nicht verlassen können.

Die zyprische Notenbank nutzte für das neu geschaffene Geld ein Notfallsystem des Eurosystems namens „Emergency Liquidity Assistance“, abgekürzt: ELA. Dieses Notfallsystem soll letztlich dazu dienen, den Zusammenbruch von Banken zu verhindern, die vorübergehend nicht liquide sind. Die Europäische Zentralbank ließ die Notenbank von Zypern hierbei lange gewähren. Denn die ELA-Kredite hätten nur durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im EZB-Rat verhindert werden können, und die sechs Euro-Krisenländer, die allesamt ähnliche Not litten, hatten damals eine Stimme mehr als ein Drittel.

Erst im Frühjahr 2013, als der Missbrauch allzu offenkundig wurde, zog die Europäische Zentralbank die Reißleine. Das trieb die Laiki-Bank in den Konkurs, obwohl sie bereits 9,5 Milliarden Euro von den 11 Milliarden Euro erhalten hatte, die in Zypern an ELA-Notfallkrediten vergeben wurde. Die zyprische Regierung musste daraufhin Kapitalverkehrskontrollen verhängen, um die Kapitalflucht zu stoppen. Diese Kontrollen haben bis zum heutigen Tage Bestand.

Wie der damalige zyprische Notenbankchef Panicos Demetriades in einer Pressekonferenz zugab, war der Konkurs der Laiki-Bank durch die Notfallkredite aus dem Eurosystem verschleppt worden, um die Situation bis zu den Wahlen zu beruhigen. Der Vorgang ist so brisant, weil die Überweisungen automatisch zu einer Inanspruchnahme der anderen Notenbanken des Eurosystems führen. Schließlich waren es ja die Bundesbank und andere Notenbanken des Eurosystems, die den fliehenden Anlegern und Banken damals das Geld auf ihren Konten gutschrieben und der zyprischen Notenbank insofern Kredit gewährten. Für diese Kreditgewährung erhielten die anderen Notenbanken verzinsliche Target-Forderungen gegen das EZB-System. Ohne die Hilfen des EZB-Systems, also der Europäischen Zentralbank und der anderen Notenbanken, hätten die Kapitalverkehrskontrollen schon ein Jahr früher eingeführt werden müssen.

Um die ELA-Notfallkredite abzulösen, erhielt Zypern später übrigens 10 Milliarden Euro an Krediten aus den Rettungsschirmen, die die Parlamente der Eurozone aufgespannt hatten. Als diese Hilfen aus den Rettungsschirmen zu entsprechenden Überweisungen nach Zypern führten, gingen die Target-Salden und die ELA-Kredite automatisch wieder zurück. Mit anderen Worten: Erst nimmt die Europäische Zentralbank den Steuerzahler an die Angel, und dann bleibt den Parlamenten nichts anderes übrig, als sie einzuholen.

Die Europäische Zentralbank erklärte vor dem deutschen Verfassungsgericht, die Vergabe der ELA-Notfallkredite sei unproblematisch, weil die zyprische Notenbank selbst für die Kredite hafte. Die anderen Notenbanken trügen also kein Risiko. Aber das ist so nicht richtig, denn das Volumen der Notfallkredite hatte die Haftungsgrenze der zyprischen Notenbank weit überschritten.

Normalerweise teilen sich die Notenbanken des Eurosystems die Ausfälle von Krediten, die sie den Geschäftsbanken aus selbst geschöpftem Geld gewährten. Wenn etwas schief geht, erhalten sie allesamt entsprechend weniger Zinsen und schütten demgemäß weniger Gewinne an die Finanzministerien ihrer Heimatländer aus. Falls jedoch ELA-Notfallkredite gewährt werden, haftet die emittierende Notenbank selbst: Sie bekommt dann auf Dauer weniger Zinsgewinne aus dem Pool jener Kredite, die das Eurosystem vergeben hat.

Allerdings haftet die nationale Notenbank faktisch nur bis zu einer natürlichen Grenze. Diese ist erreicht, wenn die möglichen Zinsabzüge aufgrund der ELA-Kredite größer sind als die Zinsen, die der Notenbank unter normalen Umständen aus dem Pool der Kredite des Eurosystems zustehen. Jenseits dieser Grenze ist die Haftung mangels Masse nicht mehr möglich – und die nationale Notenbank müsste eigentlich in Konkurs gehen. Denn mit der Druckerpresse darf sie ihre Zinsverpflichtungen gegenüber den anderen Notenbanken nicht erfüllen. Da auch der jeweilige Nationalstaat nicht verpflichtet ist, Geld nachzuschießen, und er für Verluste seiner Notenbank nicht aufkommen muss, haften am Ende die anderen Notenbanken. Sie müssen für alles, was die nationale Notenbank nicht mehr tragen kann, gerade stehen – und erhalten entsprechend weniger Zinsen aus dem Pool der vom Eurosystem vergebenen Kredite, eben weil es einen Teil der Zinsen nicht mehr gibt.

Die Haftungsgrenze entspricht, wenn die Geldmenge konstant bleibt, dem Anteil der nationalen Notenbank an der gesamten Zentralbankgeldmenge des Eurosystems, plus ihrem Eigenkapital. Zypern hatte diese Grenze auf dem Höhepunkt seiner Krise, im April 2013, um 244 Prozent überschritten. Der ungedeckte Teil seiner ELA-Notfallkredite betrug damals 8,1 Milliarden Euro oder 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Griechenland sind die Verhältnisse noch nicht gar so extrem, aber man bewegt sich dahin.

Der EZB-Rat hat der griechischen Notenbank in der letzten Woche verboten, weiterhin Geld zu emittieren und an die Banken zu verleihen, wenn es nur durch staatlich garantierte Eigenwechsel der Banken oder griechische Staatspapiere besichert war. Dieser Zugang zur nationalen „Druckerpresse“ war offenbar bereits im Übermaß in Anspruch genommen worden, um reichen Griechen, Banken und internationalen Banken die Kapitalflucht ins Ausland zu finanzieren. Zum Ausgleich gewährte die Europäische Zentralbank der griechischen Notenbank das Recht, bis zu 59,5 Milliarden Euro an ELA-Notfallkrediten an die Banken zu vergeben.

Auch dieser Betrag liegt weit über der Haftungsgrenze. Der griechischen Notenbank „gehören“ nämlich nur 38 Milliarden Euro der Zentralbankgeldmenge des Eurosystems in dem Sinne, dass ihr die Zinsen aus den damit ermöglichten Krediten zustehen. Außerdem verfügt die griechische Notenbank inklusive Bewertungsreserven über ein Eigenkapital von 3,9 Milliarden Euro, dessen Erträge ihr ebenfalls zustehen. Da das in der Summe gerade mal 41,9 Milliarden Euro sind, liegt der ungedeckte Teil der Griechenland gewährten Notfallkredite bei 17,6 Milliarden Euro.

So gesehen betreibt die EZB in Griechenland bereits eine Konkursverschleppung zu Lasten der Steuerzahler der Eurozone. Letztlich sind es die Bürger anderer Euro-Staaten, die – ohne gefragt zu werden – auf eigenes Risiko Ersatzkredite beisteuern, die es den reichen Griechen und ausländischen Investoren erlauben, sich aus dem Staube zu machen.

Deshalb müssen die Notfallkredite, die die Europäische Zentralbank Griechenland gewährt, auf 42 Milliarden Euro begrenzt werden, wenn man es mit der Haftung der griechischen Notenbank ernst meint. Die griechische Regierung sollte zugleich Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, um ihre Banken solvent zu halten – und um zu verhindern, dass noch mehr Kapital das Land verlässt. Die zyprische Fluchthilfe sollte sich nicht wiederholen.

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