Hartz IV: Habecks Vorschlag hat nichts mit Hängematte zu tun

Der Ökonom Hans-Werner Sinn begrüßt den Vorschlag des Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck zur Hartz-IV-Reform. Mit einer gewichtigen Einschränkung allerdings.
Hans-Werner Sinn

Grünen-Chef Robert Habeck hat eine Diskussion über Hartz IV angestoßen. War dessen Einführung im Rahmen der Agenda-Reformen unter der Regierung Schröder, an der die Grünen bekanntlich beteiligt waren, falsch?

Nein, es war im Vergleich zu dem, was vorher galt, ein riesiger Fortschritt, weil der Staat seither weniger Geld fürs Wegbleiben und mehr fürs Mitmachen gibt. Die so genannte Transferentzugsrate lag vorher bei 100 Prozent. Die hat Schröder immerhin auf 80 Prozent reduziert.

Der Volksmund spricht vom „Aufstocken“

Früher hatten wir ein echtes Aufstockungssystem. Das gibt es heute nicht mehr, obwohl der Begriff fälschlicherweise immer noch verwendet wird. Vor Schröder wurde jeder Verdienst bis zu einem bestimmten Sockel, der Sozialhilfe oder gegebenenfalls auch dem Arbeitslosengeld II,  aufgestockt. Die Hilfe wurde eins zu eins gekürzt, wenn man selbst ein Arbeitseinkommen erwarb. Das heißt, es blieb nichts vom erarbeiteten Geld, bis man den Sockel erreicht hatte. Die Hartz-Reformen haben das beseitigt. Man kann also auch dann noch Hilfe vom Staat empfangen, wenn man mehr als den Regelbedarf des ALG II, der dem soziokulturellen Existenzminimum entspricht, verdient.

Wir haben als Folge dieses staatlichen Lohnzuschusselements über eine Million ALG-II-Empfänger, die arbeiten. Beides – dass es nicht mehr so viel Geld gibt für jene, die nicht arbeiteten, also die Arbeitslosenhilfe abgeschafft wurde, und der Lohnzuschuss im ALG II, der einen über das Existenzminimum hebt, – hat den Mindestlohnanspruch gesenkt, der im alten System implizit vorhanden war. Das hat die Bruttolohnskala ausgespreizt, indem das Wachstum der niedrigen Löhne gegenüber dem Durchschnitt zurückblieb, was wiederum viele neue Geschäftsmodelle mit Geringqualifizierten rentabel gemacht hat. Es hat ja auch danach ein wahres Jobwunder gegeben. Und das Gute ist: Dadurch ist, anders als manche befürchteten, die Ungleichheit der Netto-Einkommen nicht gestiegen, sondern blieb – je nach Rechnung – konstant oder hat sogar kräftig abgenommen, weil viele, die vorher arbeitslos waren, nun arbeiten konnten und über ein Arbeitseinkommen verfügten. Also war die Agenda ein Riesen-Erfolg.

Also alles beim Alten lassen?

Natürlich kann man das noch weiter verbessern. Die Grünen wollen, wenn ich das richtig verstanden habe, die Transferentzugsrate von 80 auf 70 Prozent reduzieren. Das ist sehr sinnvoll. Wir haben 2002 im ifo-Institut unter meiner Leitung die „aktivierende Sozialpolitik“ formuliert. Da wollten wir eine Reduktion auf 50 Prozent. Schröders Regierung hatte unsere Idee grundsätzlich übernommen, aber eben nur mit 80 Prozent. Sie tat einen richtigen Schritt, aber zu zaghaft. Auch die Ergänzung, die Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller von der SPD vorschlägt, nämlich Arbeitsangebote bei den Kommunen zu schaffen, halte ich für sehr richtig. Wir hatten das damals auch gefordert, nämlich dass derjenige, der auf dem Arbeitsmarkt keine Stelle findet, beim Staat arbeiten können soll. Herr Müller will dafür allerdings etwas mehr Geld auf den Tisch legen, als wir es seinerzeit vorschlugen. Das ist in Ordnung, denn das Grundprinzip muss sein, dass es besser ist, wenn der Staat das Mitmachen als das Wegbleiben bezahlt. Unabhängig vom Geld ist das auch wegen der besseren sozialen Inklusion der Menschen in die Arbeitswelt ratsam.

Habeck und Andrea Nahles kritisieren, dass der Sozialstaat zu viel Druck auf Arbeitslose ausübe. Habeck spricht von „Gängelung“, Nahles von „Hartz-IV-Sanktionen“ als „Symbol für das Misstrauen des Staates“.

Man muss unterscheiden zwischen den Bedingungen, die man in einem solchen Anreizsystem setzt, und zwischen der Semantik, die Politiker als Sahnehäubchen draufsetzen. Gerade bei dem was Habeck jetzt vorgeschlagen hat, passt das nicht zusammen. Er will die Anreize verstärken, eine Arbeit anzunehmen, indem das Lohnzuschusselement, das im Hartz-IV-System angelegt ist, vergrößert wird. Und zwar um die Hälfte: Von 20 Prozent auf 30. Das ist ein guter Vorschlag und hat mit sozialer Hängematte nichts zu tun. Im Gegenteil, es ist aktivierende Sozialpolitik. Wenn Habeck seinen Vorschlag mit diesem Vokabular eingeleitet hätte, dann hätte das auch anderen Leuten eingeleuchtet. Aber er wählt ein Vokabular, das linker klingt, als es ist.

Habeck will aber auch Nachweispflichten für Hilfsempfänger abschaffen.

Den Teil finde ich weniger gut, weil er dadurch seine Anreizwirkungen wieder zunichte macht. Da gefällt mir Müllers Idee, kommunale Jobs anzubieten, besser. Wenn ich richtig gerechnet habe, sind das quasi Drei-Euro-Jobs statt der Ein-Euro-Jobs, die es bei Schröder und Clement seinerzeit gab. Wenn man das verbindet mit dem geringeren Transferentzug für Geringverdiener, die in der Privatwirtschaft arbeiten, könnte daraus eine neue Agenda werden.

Würde das nicht zu einem deutlichen Anstieg der Sozialausgaben führen?

Da bin ich mir nicht sicher. Ein geringerer Transferentzug kostet bei gleicher Beschäftigungslage Geld, wohl wahr. Aber vergessen Sie nicht die größere Dynamik, die dadurch am Arbeitsmarkt entsteht, die die Zahl derer verringert, die sie in der Arbeitslosigkeit vollständig bezahlen müssen. Es könnte billiger sein, mehr Menschen in der Arbeit stärker zu bezuschussen als mehr Arbeitslose zu hundert Prozent bezahlen zu müssen.

Das Interview führte Ferdinand Knauß

Nachzulesen auf www.wiwo.de.