Die Nachkriegsordnung wird erschüttert

Ökonom Hans-Werner Sinn über den Brexit, die innere Balance der EU und ein letztes Angebot an die Briten
Hans-Werner Sinn

Frankfurter Rundschau, 19. Dezember 2018, S. 12.

Herr Sinn, vorausgesetzt es passiert nicht noch ein Wunder, wird mit Großbritannien Ende März 2019 die zweitgrößte Volkswirtschaft die EU verlassen. Welche Dimension hat der Brexit für die verbleibende 27er-Union?

Das Vereinigte Königreich ist so groß wie die 19 kleinsten EU-Länder zusammen. Sein Austritt ist also wirtschaftlich gleichbedeutend mit dem Austritt von 19 der 28 EU-Länder. Die Vorstellung, man könne zur Tagesordnung übergehen, weil der Brexit ein Nichtereignis sei, ist absurd. Die Nachkriegsordnung wird erschüttert.

Sie haben einmal gesagt, nach dem Brexit dürfe in der EU kein Stein auf dem anderen bleiben. Welche Konsequenzen muss die EU ziehen?

Die erste Konsequenz aus deutscher Sicht ist, dass die Sperrminoritätsklausel im EU-Ministerrat, die im Vertrag von Lissabon verankert ist, geändert werden muss. Diese Klausel besagt, dass Beschlüsse von einer Ländergruppe, die 35 Prozent der Bevölkerungsgruppe auf sich vereint, blockiert werden können. Bisher war es so, dass die - ich nenne sie mal - Nordländer, also Großbritannien, Holland, Deutschland, Österreich und die Länder bis ganz hoch in den Norden, 39 Prozent der Bevölkerung auf sich vereinigten, während die mediterranen Länder auf 38 Prozent kamen. Beide Gruppen hatten also eine Sperrminorität, es war ein Gleichgewicht der Kräfte. Man konnte nichts durchsetzen, was einer der Gruppen missfiel.

Diese "innere Balance" ginge also verloren?

So ist es. Ohne Großbritannien rutscht die Nordgruppe auf 30 Prozent ab und verliert die Sperrminorität, während die mediterrane Gruppe der Staaten auf 43 Prozent hochgeht. Das muss dringend geändert werden. Denn Deutschland kann es nicht hinnehmen, dass die Sperrminoritätsklausel im EU-Ministerrat so bleibt, wie sie ist.

Was ist mit dem Thema Migration?

Ein Grund für die Brexit-Entscheidung der Briten war das Thema innereuropäische Migration. Man muss überlegen, ob die Gründe der Briten für ihre Austrittsentscheidung nicht doch legitim sind, weil sie ein Problem der EU aufzeigen. Die britische Regierung hatte bei den Verhandlungen ja gewollt, dass eine verzögerte Integration von EU-Immigranten in das britische Sozialsystem ermöglicht wird. London argumentierte, Großbritannien sei ein Sozialmagnet.

Wie kann man das anders regeln?

Die erarbeiteten Leistungen sollten vom Gastland gezahlt werden, die ererbten vom Heimatland. Unter den erarbeiteten Leistungen verstehe ich Leistungen der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung, die man selbst bezahlt. Unter den ererbten Leistungen verstehe ich die steuerfinanzierten Leistungen wie z. B. eine Sozialhilfe für gering Qualifizierte, die keine Arbeit finden, für chronisch Kranke, für behinderte Personen oder auch für Kinder, die im Ausland verbleiben. Leistungen, die nicht mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängen, sollten vom EU-Heimatstaat erbracht werden, weil der Heimatstaat das Versicherungskollektiv ist, dem man entstammt. Eine Sanierung der heimischen Versicherungskollektive zulasten noch funktionsfähiger Sozialstaaten der EU sollte man ausschließen. Eine solche Regelung würde im Übrigen die allerletzte Chance bieten, um den Brexit noch abzuwenden. Sollte das Unterhaus morgen den Rückfallvertrag ablehnen, den Premierministerin May ausgehandelt hat, was ich nicht für unwahrscheinlich halte, ist das Rennen ja noch einmal offen. Dann könnte man den Briten ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen können.

Das Interview führte Alexander Weber.

Nachzulesen auf www.fr.de.

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