Die unbequeme Wahrheit

Fakten, Fakten, Fakten: Nationalökonom Hans-Werner Sinn redet Klartext! Warum die Politik der EZB brandgefährlich ist, wie unser Wohlstand zu retten ist – und weshalb der Brexit eine Dummheit ist!
Hans-Werner Sinn

Focus Money, 19. Dezember 2019, S. 32-41.

Herr Sinn, „Auf der Suche nach der Wahrheit“ heißt Ihre Autobiografie. Welcher Wahrheit sind Sie momentan auf der Spur?

Das Klima-Thema beschäftigt mich schon lange. Es wallt derzeit wieder auf durch Greta. Es kommen neue Fragen auf, die die Bevölkerung umtreiben ...

Was meinen Sie genau damit?

Wir haben einen Klimawandel! Das Problem müssen wir angehen als Menschheit. Aber es bringt nichts, wenn ein Land allein agiert. Wir dürfen nicht nur die Nachfrageseite betrachten. Betrachten wir die fossilen Brennstoffe. Was passiert, wenn Deutschland seine Nachfrage verringert? Oder eine Gruppe wie die EU? Wo bleiben diese Brennstoffe, die wir jetzt nicht mehr kaufen?

Bleiben Sie dann nicht in der Erde?

Das wäre gut fürs Klima. Aber das ist doch nicht selbstverständlich. Nehmen wir mal das Öl: Angenommen, wir verzichten in Deutschland darauf und stellen alles auf E-Mobilität auf der Basis von neuem Grünstrom um. Glauben Sie denn, dass die Ölscheichs das Öl in der Erde lassen? Warum sollten sie das tun? Ich vermute eher, dass der Preisverfall, den unsere Nachfrageeinschränkung auf den Weltmärkten verursacht, die Scheichs veranlasst, noch mehr zu fördern, denn sie brauchen ja das Geld, um ihren Hofstaat zu finanzieren. Und leider wird alles verbrannt, was gefördert wird, und der Kohlenstoff geht in die Luft.

Aber was würde dann genau passieren?

Bei fallendem Weltmarktpreis steigt die Nachfrage eben woanders, und es werden dort noch mehr SUVs und schwere Lkws gefahren. Länder, die auf die grüne Politik pfeifen, haben nun einen doppelten Vorteil. Erstens können sie das Öl verbrennen, das wir freigeben, und zweitens kriegen sie das Öl, das die Scheichs zusätzlich extrahieren. Das Weltklima ändert sich noch schneller, als es ohne unsere unilateralen Aktionen der Fall gewesen wäre. Ob Greta das bedacht hat?

Aber irgendwann lohnt sich doch das Geschäft für die Scheichs nicht mehr, wenn die Preise immer weiter fallen ...

Die Extraktionskosten für die Scheichs liegen bei drei bis vier Dollar pro Barrel inklusive Explorationskosten. Der Weltmarktpreis schwankt zwischen 60 und 140 Dollar. So weit, dass die Extraktion sich nicht mehr lohnt, können Sie den Ölpreis gar nicht drücken, denn dieser Preis ist ein reiner Knappheitspreis, der im Gegensatz zu den Preisen produzierter Güter nicht durch die Erzeugungskosten bestimmt wird.

Ist die Klimapolitik nur eine Illusion, um dem deutschen Steuerzahler das Geld aus der Tasche zu ziehen?

Es ist viel zu kurzfristig gedacht! Man muss doch einen Mechanismus finden, wie sich der Ölverbrauch in der ganzen Welt ändern lässt. Manche Menschen meinen, Deutschland müsse wenigstens einen kleinen Beitrag leisten, auch wenn China und die USA sich querstellen. Das sei immerhin mehr als nichts. Aber nach meinem Argument ist es ja nicht mal ein kleiner Beitrag, sondern kein Beitrag, ja vielleicht sogar ein negativer Beitrag.

Aber warum zerstört sich Deutschland selbst?

Von Zerstörung würde ich nicht reden, wohl aber von Beschädigung. Es ist eine Leichtfertigkeit von Politikern, die sich durch den emotional aufgeladenen Mainstream der öffentlichen Meinung lenken lassen, anstatt nach Wegen zu suchen, wie sie den Klimawandel tatsächlich bekämpfen können. Sie schwimmen auf einer emotionalen Welle und verspielen dabei unser Vermögen, ohne dass dem Klima geholfen wird. Es wird immer über die Ziele diskutiert, bis 2030 wollen wir noch mal um 38 Prozent runter beim CO2-Verbrauch. Aber wir müssen über die Instrumente reden! Und wir müssen überlegen, wie die Ölscheichs, die Kohle-Barone und Putins Gas-Oligarchen reagieren. Sie, nicht wir, sind die Herren des Klimas.

Wie lässt es sich besser machen?

Wir brauchen einen weltweiten Emissionshandel, bei dem alle Länder mitmachen und ein Verkauf an Dritte gar nicht mehr möglich ist. Wenn Deutschland einfach nur seine eigene Industrie lädiert, hilft das niemandem. Wir gehen wirklich den falschen Weg. Denken Sie nur an die CO2-Verordnung, die in Brüssel letztes Jahr für die Autos beschlossen wurde. Danach darf das Durchschnittsauto in der Flotte eines Herstellers im Jahr 2030 nur noch 2,2 Liter Diesel verbrauchen. Das ist schier unmöglich und schadet den deutschen Autobauern massiv!

Aber das lässt sich doch theoretisch mit E-Autos umsetzen?

In der Formel der EU werden die E-Autos mit null Liter Verbrauch angesetzt. Aber das ist eine Mogelpackung, weil der Auspuff nur ins Kraftwerk verlagert wird. Im Fall von Windenergie ist das zwar nicht der Fall, aber wir haben in Deutschland noch einen so schlechten Energiemix mit so viel Kohle, dass das E-Auto derzeit noch keinen Vorteil gegenüber einem Diesel bietet. Hier wird dirigistisch eingegriffen, und man zwingt die Autobauer zum E-Auto und dazu, den erfolgreichen Diesel aufzugeben.

Wie gefährlich ist das für unseren Wohlstand, und droht der deutschen Autoindustrie sogar der Untergang?

Es belastet sie sehr stark. Die großen Autobauer versuchen, das Problem zu lösen, indem sie E-Motoren zusätzlich zum Verbrenner einbauen. Aber bei kleinen Autos ist das wenig praktikabel, beispielsweise bei vielen Modellen von VW. VW  rüstet deshalb auf elektrisch um. Das ist hart und riskant.

Und es gibt ein Problem für den Arbeitsmarkt: Für die Herstellung von E-Autos brauchen die Produzenten weniger Arbeitskräfte. Ein Dieselmotor besteht aus 4.000 Metallteilen, die aus den verschiedensten Legierungen bestehen und unterschiedliche Materialeigenschaften haben müssen. Den Motor zu bauen beherrscht niemand so gut wie Deutschland. Diese Domäne zerstört die Politik. Ich glaube nicht, dass die Brüsseler CO2-Verordnung viel mit der Umwelt zu tun hat. Es ist knallharte Industrie- und Interessenpolitik. Man hat sich nur ein grünes Mäntelchen umgehängt. Es geht in Wahrheit darum, gleiche Startbedingungen für alle Autobauer in Europa zu schaffen. Hinten anstellen ist die Devise.

Warum haben unsere Politiker die Autobauer und damit unseren Wohlstand aufs Spiel gesetzt?

Unsere Ministerin Svenja Schulze hat bei den Verhandlungen viel zu viele Zugeständnisse gemacht. Ich frage mich, ob sie wusste, was sie tat ...

Wie schätzen Sie die wirtschaftliche Lage in Deutschland nach diesen Rückschlägen ein?

Die Industrie befindet sich seit dem Sommer 2018 in der Rezession! Die Produktion ist deutlich zurückgegangen. Es hat noch nicht durchgeschlagen auf die gesamte Wirtschaft. Nachgelagerte Bereiche wie Bau und Dienstleistung werden aber nachlassen, wenn sich die Industrie nicht fängt. Es sieht nicht rosig aus.

Aber vor Kurzem brummte die Wirtschaft noch wie nie zuvor. Woran liegt der Absturz?

Es liegt, wie gesagt, an der CO2-Verordnung der EU, es liegt an dem Imageverlust durch die Schummeleien der Autoindustrie, es liegt am Brexit, es liegt an Trump, und es liegt an der Weltwirtschaft. England war unser drittgrößter Exportmarkt. Der ist in Gefahr, wenn es Zölle gibt. Trump hat mit seinen Drohungen die Autobauer veranlasst, die Produktion in die USA zu verlagern. Trump hat auch seinen Anteil daran, dass die Weltwirtschaft derzeit schwächelt, ausgehend von China. Die Schwäche der Weltwirtschaft schlägt auf Deutschland als Exportnation durch.

Müsste die Politik gegensteuern, oder vertrauen Sie auf den Markt?

Das Problem ist ja nicht der Markt. Es sind politisch verursachte Krisen. Deutschland hat, bis auf die Diesel-Schummelei, keine unmittelbare Schuld daran. Wenn weltweit Konjunkturprogramme gemacht würden, könnte man das auffangen. Aber besser wäre es, wenn Trump und die Briten zur Vernunft kämen.

Noch mehr Unheil droht durch die Schulden und die Enteignung der Sparer. Wie würden Sie denn die Ära von Mario Draghi in wenigen Sätzen beschreiben?

Die Europäische Zentralbank (EZB) war ursprünglich eine Zentralbank, die Geldpolitik gemacht hat. Sie druckte Geld und verlieh es kurzfristig an die Banken zu einem marktgerechten Zins, und das auch nur, wenn die Banken Sicherheiten bieten konnten. Also stellte sie die Liquidität für die Wirtschaft sicher. Mario Draghi hat die Geldpolitik zur Rettungspolitik gemacht! Er hat mit der Druckerpresse marode Banken und Staaten gerettet.

Was kritisieren Sie genau?

Draghi kaufte massenweise Staatspapiere, diese stiegen im Kurs und die Zinsen gingen im Gegenzug runter. Marode Staaten konnten sich also billiger verschulden dank Draghi. Mit diesen Schulden ließ sich die Wirtschaft aufblähen, und die wahren Probleme wurden übertüncht. Und die Banken machten Buchgewinne, weil die Kurse der Staatsanleihen manipuliert wurden. Das fiele alles in sich zusammen, wenn die Zinsen steigen würden.

Aber bisher hat es doch funktioniert?

Ja, weil die Drogensüchtigen neue Drogen erhielten. Die EZB wird zum Eigentümer großer Teile der Staatsschulden, und letztlich bürgen die Steuerzahler. Wenn Staaten pleitegehen, liegen die Verluste bei der EZB. Und die Eigentümer der EZB sind die Staaten.

Was hätten Sie an Draghis Stelle gemacht?

Ich hätte den Euro auch nicht zusammenbrechen lassen. Draghis Politik weist ein gewisses Maß an Rationalität auf. Die Geschichte wird ihr Urteil darüber fällen. Ich hätte jedoch schon 2010 die Rettung von Griechenland so nicht mitgetragen. Im Maastrichter Vertrag steht ja explizit drin, dass Staaten nicht für andere Staaten haften. Die Ausfälle müssen die Gläubiger schultern. Aber das waren in diesem Fall die Banken – und die wurden mitgerettet. Wäre Griechenland aus dem Euro ausgetreten, hätte das den Euro nicht erschüttert.

Die Sparer müssen es ausbaden, werden sie durch die niedrigen Zinsen enteignet?

Das kann man so sehen. Die Frage ist: Wer ist der Missetäter? Die EZB ist nicht allein schuld daran. Viele Zentralbanken der Welt haben die Zinsen gesenkt. Trotzdem war das nicht positiv. Durch die Senkung der Zinsen sollten die Währungen geschwächt und die jeweiligen Exportindustrien gestärkt werden – aber es können nicht alle gleichzeitig abwerten.

Was passiert bei so einem Währungskrieg?

Wir hatten das schon mal in den 1930er-Jahren unter dem Begriff „Beggar-thy-neighbour-Politik“. Dieses Phänomen erleben wir wieder. Es führte zu immer mehr Spannungen.

Darf das die EZB überhaupt?

Nein. Wechselkurs-Politik ist nicht ihre Aufgabe. Deswegen wird ihr Wertpapierkaufprogramm auch immer anders begründet. Die Sparer zahlen jedenfalls drauf. Das belastet das Rentensystem massiv. Früher konnte ich meinen Studenten vorrechnen, dass nach 30 Jahren Sparen zwei Drittel der frei werdenden Mittel aus dem Zins und Zinseszins und nur ein Drittel aus der Ersparnis stammen. Heute bleibt ihnen im schlimmsten Fall nicht mal mehr das Ersparte übrig, weil es keine Zinsen mehr gibt.

Aber Ökonomen wie Marcel Fratzscher führen an, dass die Zinsen früher viel höher waren, aber eben auch die Inflation ...

Das ist richtig, aber dennoch gab es früher positive Realzinsen. Heute sind die Realzinsen negativ.

Wie soll das Spiel mit den negativen Zinsen eigentlich weitergehen? Was würde beispielsweise passieren bei einem Zins von minus drei Prozent?

Unter heutigen Bedingungen ist ein solcher Zins nicht möglich. In einer Geldwirtschaft mit Bargeld ist eigentlich null die Untergrenze. Warum? Wenn Sie tiefer gehen, dann würden die Gläubiger ja das Geld nicht mehr verleihen, sondern Bargeld halten.

Aber warum sieht die Realität anders aus?

Weil die Bargeldhaltung so einfach auch nicht ist bei größeren Beträgen. Dafür brauchen Sie einen Tresor, und Sie müssen es versichern. Die Kosten ermöglichen es der EZB, den Zins leicht ins Negative zu senken. Aber die Konsequenz ist schon heute, dass viele Bürger und Banken massiv Bargeld horten! Das hat es früher nicht gegeben.

Aber das kann ja nicht im Interesse der EZB sein ...

Deswegen vergrößert sie die Kosten für die Hortung. Der 500-Euro-Schein wurde bereits verboten, also müssen Sie in der Summe viel mehr Scheine horten. Das ermöglicht es gedanklich, die Zinsen noch weiter zu drücken. Wenn das nicht reicht, dann schafft die EZB eben die 200-Euro-Scheine auch noch ab.

Droht uns dann früher oder später das absolute Bargeldverbot?

Politisch ist das nicht gewollt. Aber es gibt Kräfte im Hintergrund, die das wollen. Wie weit die Gedanken gehen, zeigt ein Ideenpapier des Internationalen Währungsfonds (IWF). Darin ist eine duale Währung vorgesehen. Danach soll nur noch das Buchgeld gesetzliches Zahlungsmittel sein. Wenn Sie also eine Verpflichtung haben, können Sie sie nur noch per Überweisung erfüllen, aber nicht mehr mit Bargeld; das müssten Sie erst mal in Buchgeld umtauschen.

Das klingt noch wenig schockierend ...

Der Clou daran: Das Bargeld soll jedes Jahr gegenüber dem Buchgeld abwerten um einen Prozentsatz, der dem negativen Zins entspricht. Damit Sie die Fluchtmöglichkeit ins Bargeld nicht mehr haben. So müsste man also nicht mal das Bargeld abschaffen.

Wo soll das noch hinführen?

Die Sparer würden noch mehr enteignet. Was wäre das für eine Welt? Der Gläubiger müsste dem Schuldner jährlich Geld zahlen, damit der davon leben kann. Früher war es umgekehrt.

Aber was soll dieser Irrsinn bringen?

Es gibt zwei Interpretationen. Bei der einen soll die Nachfrage und damit die Wirtschaft angekurbelt werden, um der Rezession entgegenzuwirken. Und die andere Interpretation ist, dass sich die stark verschuldeten Länder auf diese Weise einen Vorteil verschaffen wollen und deswegen im EZB-Rat für Negativzinsen stimmen.

Welche Gefahr unterschätzen Anleger denn im Euro-Raum momentan am meisten?

Die Gefahr, dass die Retterei der EZB zu dramatischen Fehllenkungen des Kapitals im Euro-Raum führt und dieser damit teilweise vernichtet wird. In Europa beginnt eine Phase des schleichenden Siechtums, wie sie in Japan schon dreißig Jahre anhält. Der Prozess wird durch die sinkenden Geburtenraten verstärkt. Langfristig ist im Übrigen auch die durch die Rettungsaktionen induzierte Ausweitung der Staatsschulden gefährlich.

Ein Beispiel aus der Historie zeigt die Sprengkraft: Alexander Hamilton war der erste Finanzminister der USA. Er sozialisierte die Schulden der einzelnen Staaten, indem er sie zu Bundesschulden machte. 1813 im zweiten Krieg gegen die Briten gab es dann eine zweite Runde der Schulden-sozialisierung. Dadurch verschuldeten sich die Staaten immer mehr, weil sie und ihre Gläubiger davon ausgingen, dass sich Washington um die Rückzahlung kümmern würde. Zunächst blühte die Wirtschaft angesichts der steigenden Staatsschulden auf. Es wurden große Infrastrukturprojekte finanziert, bei deren Entstehung viele Menschen Arbeit fanden. Aber dann entstand eine Blase, die 1835 platzte.

Viele Staaten gingen in den Konkurs, und den anderen war die Last aus der Solidarhaftung zu groß. Es blieb nur Hass und Streit übrig, ein Streit, der übrigens neben der Sklavenfrage zum Sezessionskrieg beitrug. Die Lehre daraus: Der Föderalismus in den USA hat erst funktioniert, als klar war, dass ein Staat nicht mehr für die Schulden eines anderen einsteht. Da hörte die Verschuldung auf der Ebene der Einzelstaaten alsbald auf, weil die Gläubiger kein Geld mehr gaben.

Aber wie kommen wir in der Euro-Zone raus aus diesem Dilemma?

Das ist schwierig. Es besteht ein Drohpotenzial gegenüber den gesunden Ländern wie Deutschland. Nach dem Motto: Wenn ihr uns nicht helft, dann zahlen wir unsere Schulden nicht zurück. Dass es so weit kommen konnte, wurde nicht von den Parlamenten beschlossen, sondern vom EZB-Rat. Da haben Malta und Zypern gemeinsam genauso viel zu sagen wie Deutschland und Frankreich. Diese Asymmetrie der Stimmverteilung ist absurd, zumal die EZB in Form ihrer Unabhängigkeit nahezu diktatorische Vollmachten hat und sie ausufernd interpretiert.

Wie teuer kommt uns diese Diktatur der EZB zu stehen?

Besonders gefährlich sind die Targetsalden, sie sind ein Maß für die Netto-Überweisungen im Euro-Raum. Beispielsweise überweist die Bundesbank Geld an die Notenbank Italiens und erhält im Gegenzug eine Forderung. Die Bundesbank hatte zwischenzeitlich weit über 900 Milliarden Euro ausstehen. In letzter Zeit ist dieser Betrag wieder deutlich gesunken.

Das liegt zum einen daran, dass die EZB den deutschen Banken in gewissem Umfang die Strafzinsen auf Einlagen erlässt, wenn sie diese Einlagen an Banken in Ländern verleihen, aus denen das Geld geflohen war. Das hat mit den hohen Freibeträgen bei den negativen Zinsen zu tun, die man in diesen Ländern noch ausnutzen kann. Zum anderen liegt es daran, dass die Targetsalden derzeit effektiv negative Zinsen tragen. Der Negativzins wird im Targetsystem verbucht und führt so zum Abbau der Schuldverhältnisse im Euro-Raum. Beides ist alles andere als beruhigend.

Herr Sinn, wie lässt sich dieses geballte Schlamassel nun doch noch lösen?

Es gibt vier Möglichkeiten, damit umzugehen. Von Lösungen zu sprechen wäre schon übertrieben. Erstens: die Transferunion. Zweitens: Deflation für die Krisenländer. Das geht aber nicht, dann müssen auch die Löhne runter, und sie destabilisieren diese Länder, vielleicht sogar bis an den Rand des Bürgerkriegs. Drittens: Wir hoffen, dass die Inflation nur in den Nordländern steigt – und nicht im Süden. Klappt auch nicht. Der schwere Tanker Deutschland lässt sich nicht so leicht inflationieren. Viertens: die atmende Währungsunion mit Austritt und Abwertung.

Also gibt es keine „echte“ Lösung?

Nein! Die letzte Option könnte im Extremfall eine Finanzkrise auslösen. Inflation würde im Ernstfall die Bürger auf die Barrikaden treiben. Das hat in den 1920er-Jahren den Weg für das Dritte Reich geebnet. Die Deflation ging schon unter Heinrich Brüning schief, und die Transferunion wird sehr teuer und treibt die Empfängerländer in die holländische Krankheit. Der Patient ist krank, und wir müssen uns die Behandlung mit der höchsten Überlebenschance heraussuchen.

Aber Sie haben Ihr Geld noch auf dem Konto und rechnen nicht mit dem Euro-Kollaps?

Nein, ich glaube, dass die EZB sich den Freiraum unter Draghi erkämpft hat, um im Notfall alles mit der Druckerpresse zu lösen. Aber das von der EZB gelenkte Europa, das dabei entsteht, ist schwach, wächst kaum noch und siecht dahin. Langfristig ist es politisch instabil.

Nehmen wir einmal an, Sie würden die Nachfolge von Angela Merkel antreten. Was würden Sie lieber heute als morgen verändern?

Zunächst einmal mache ich mir gar keine Illusionen, dass ich ein guter Politiker wäre. Weil ein Politiker ganz andere Dinge berücksichtigen muss als die ökonomischen Sachzwänge. Aber wenn ich mal von diesen Sachzwängen ausgehe, dann würde ich versuchen, die EU zu verändern. Wir hatten in den vergangenen Jahren die Situation, dass die Franzosen immer neue Forderungen stellten und Deutschland meist nur die Forderungen etwas reduzieren konnte. Umgesetzt wurden sie trotzdem. Aber das ist keine sinnvolle Politik. Wir müssen ein positives Modell von Europa entwickeln. Und ich denke, es führt kein Weg an der weiteren europäischen Integration vorbei. Die Lehre aus dem Krieg müssen wir weiter ziehen. Insofern finde ich es richtig, dass Frau von der Leyen jetzt Kommissionspräsidentin ist. Sie wird die militärische Integration vorantreiben. Das ist ja mal das Wichtigste. Der Euro ist es jedenfalls nicht.

Das ist überraschend. Am Euro würden Sie nichts ändern?

So habe ich das nicht gemeint. Ich würde für die EU und für den Euro ein neues Regelwerk entwickeln, das etwas härter ist für all diejenigen, die drinbleiben wollen. Zudem müssen die Austrittsmöglichkeiten aus dem Euro erleichtert werden. Und natürlich müssen die Targetsalden begrenzt werden. Ein gewisser Puffer darf bleiben. Aber jenseits dieser Grenze muss ein Regime beginnen, in dem Strafzinsen zu zahlen sind und in dem getilgt wird durch die Hergabe von verzinslichen Vermögensobjekten oder auch Gold.

Da würden Sie sich ja einiges aufladen als künftiger Kanzler. Was muss sich noch verändern?

Noch mal: Ich wäre ein schlechter Kanzler, weil ich zu sachorientiert und zu unpolitisch agieren würde. Aber ich würde ganz sicher den Weg in die Transferunion nicht gehen wollen. Den ersten Schritt dorthin erleben wir ja gerade mit der gemeinsamen Einlagensicherung. Diese halte ich nicht für richtig. Es ist wichtig und richtig, die europäischen Banken gemeinsam zu regulieren, weil sie eng miteinander verzahnt sind. Hier braucht es also einheitliche Standards und auch Abwicklungssysteme. Aber die Einlagensicherung ist eine verdammt gefährliche Geschichte.

Das müssen Sie uns genauer erklären.

Sie wird ja verkauft als Sicherungsstrategie. Das ist sie aber überhaupt nicht. In den USA erlebten wir als Konsequenz der gemeinsamen Einlagensicherung die sogenannte Savings-and-Loan-Krise in den 1980er-Jahren, in der tausend Sparkassen untergegangen sind.

Warum sind die Banken deswegen reihenweise pleitegegangen?

Zu diesem Ergebnis kam ein Kongressbericht, der 1993 veröffentlicht wurde. Die Banken konnten die Sparer mit einem Zins anlocken, der etwas höher als bei der Konkurrenz war – gepaart mit dem Versprechen, dass die Ersparnisse ja wegen der Einlagensicherung sicher sind. Vor allem die maroden Banken suchten mit den frischen Kundengeldern ihr Heil in der Zockerei und haben dabei eine Fristentransformation gemacht. Sie liehen sich also Kapital kurzfristig zu einem niedrigen Zins und verliehen es langfristig zu einem etwas höheren Zinssatz.

Die Banken hofften darauf, dass sie die langen Kredite mit revolvierenden kurzen Krediten immer wieder unterlegen konnten. Dem war aber nicht so, und es setzte eine Pleitewelle ein. Banken neigen dazu, dieses Risikospiel zu spielen. Sie haben ja alle sehr wenig Eigenkapital. Wenn sie ins Risiko gehen, wissen sie, dass sie im Erfolgsfall die Gewinne an die Aktionäre ausschütten können, das Geld ist also schon mal sicher. Und wenn es schiefgeht, wird der Laden im schlimmsten Fall zugemacht. Da verliert man ja nur das bisschen Eigenkapital. Der Rest liegt schließlich bei irgendwelchen Sicherungssystemen.

Soll das heißen, dass eine gemeinsame Einlagensicherung eine Finanzkrise sogar noch wahrscheinlicher macht?

Das ist richtig. Nehmen sie nur die zyprischen Banken, die vor einigen Jahren reihenweise in Konkurs gingen. Die hatten rumgezockt in der Welt mit Einlagen, die sie bekommen hatten, weil sie den Einlegern weit höhere Zinsen geboten hatten, als sie im Rest Europas üblich waren. Die Institute haben mit derselben Strategie spekuliert wie die Sparkassen einst in den USA. Wenn man jetzt auch noch eine gemeinsame Einlagensicherung einführt, wird sich dieses Spiel wiederholen.

Die Einleger bekommen ja schließlich ihr Geld wieder. Nur eben nicht von der Bank, sondern von einem europäischen Fonds. Folglich brauchen die Banken nur minimale Zinsaufschläge auf ihre Einlagen anbieten, und schon fließt ihnen aus ganz Europa das Geld zu. Die Einlagensicherung fördert also zockende Zombie-Banken, die sonst an das Geld der Sparer nicht herankämen.

Wie viel Geld stünde da theoretisch im Feuer? Deutschland wäre ja prozentual daran beteiligt, oder?

Deutschland ist am ESM anteilig beteiligt. Es wird argumentiert, dass ja zunächst ein nationaler Fonds eingerichtet wird. Wenn der nicht ausreichen sollte, würde dann ein europäischer Fonds einspringen, den die Banken selbst aufbauen müssen. Und erst wenn der ebenfalls erschöpft ist, greift dann der europäische Rettungsschirm ESM, und die Gemeinschaftshaftung zu Lasten der Bürger setzt ein. Ich vermute, dass die Bürger schon recht früh zur Kasse gebeten werden, weil der von den Banken aufzubauende Fonds ziemlich leer ist und der ESM rasch ins Spiel käme. Man darf nicht von einem Extrem ins andere gehen. Je umfangreicher diese Schutzmechanismen sind, desto eher werden sie missbraucht.

Was heißt das konkret?

Es sollen ja 100.000 Euro europaweit abgesichert werden. Pro Konto. Stellen Sie sich das mal vor! Bei Kunden, die über mehrere Konten verfügen, wären es dann auch mehrere hunderttausend Euro an Absicherung. Überlegen Sie mal: Das Medianvermögen eines deutschen Haushalts liegt laut einer Erhebung der EZB zwischen 50.000 und 60.000 Euro. Und da sollen wir 100.000 Euro für jedes Konto in Europa mit absichern? Das ist außerhalb jeder vernünftigen Proportion.

Was schlagen Sie vor?

Ich fände es besser, das ganze System sich langsam entwickeln zu lassen. Wir haben in Deutschland drei Einlagensicherungssysteme, die alle privatwirtschaftlich organisiert sind. Wir haben hierzulande ja noch nicht einmal eine nationale Einlagensicherung und sollen jetzt von der dezentralen Stufe gleich zu einer europäischen Einlagensicherung? Damit wird einfach eine große Stufe übersprungen. Das ist nicht gut. Ich kann die Politik nur ermahnen, hier nicht dem Drängen anderer Staaten Europas nachzugeben.

Wie legt eigentlich Hans-Werner Sinn sein Erspartes an? Aktien, Gold, Bitcoin?

Ich bin doch nur ein armer Hochschullehrer. Da müssen Sie andere fragen. Aber im Ernst: Ich gebe grundsätzlich keine Anlagetipps.

Wenn Sie auswandern würden: in welches Land und warum?

Ich würde nicht auswandern. Ich liebe Deutschland. Ich kämpfe darum, dass das Gute hierzulande erhalten bleibt und dass das, was noch nicht so gut ist, verbessert wird.

Das Interview führten Peter Bloed und Mario Lochner.

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