Die SPD kann nur dann gewinnen, wenn sie mit dem ideologischen Gerede aufhört

„Ich glaube, die SPD kann nur dann gewinnen, wenn sie wieder ernst genommen wird, wenn sie aufhört mit diesem ideologischen Gerede,“ betont Hans-Werner Sinn im Interview mit dem The European.
Hans-Werner Sinn

The European, 13. März 2013.

Herr Prof. Dr. Sinn, Sie sind einer der angesehensten und einflussreichsten deutschen Ökonomen der letzten 20 Jahre. Jetzt könnte man sagen, dass über Adam Smith die Philosophie mit der Ökonomie verwandt ist – beide abstrahieren, beide schauen sich die Wirklichkeit aus der Makroperspektive an und versuchen Triebkräfte zu identifizieren und diese auch zu analysieren. Sind Ökonomen in diesem Sinne vielleicht die Philosophen der Moderne?

Die Verbindungen sind in der Tat da. Sie haben schon Adam Smith erwähnt. Er hatte einmal das wichtigste Basiswerk der Volkswirtschaftslehre geschrieben, und außerdem hat er ein Buch mit dem Titel The theory of moral sentiments geschrieben, das eine philosophische Abhandlung war. Die praktische Philosophie ist jedenfalls etwas, das sich sehr auf die Interaktion der Menschen ausrichtet und über deren Werte und Motivationslagen räsoniert. Da gibt es durchaus Berührungspunkte zwischen der Volkswirtschaftslehre und der Philosophie. Es gibt auch heute noch Forscher, die im Grenzgebiet arbeiten. Karl Homann hier in München ist ein prominenter Vertreter, aber es gibt auch andere.

Anders als Philosophen haben möglicherweise Ökonomen mit dem Ruf zu kämpfen, kalte Technokraten zu sein, weil sie – ähnlich wie Philosophen – Probleme aus der Vogelperspektive durch Abstraktion lösen. Da wird dann schnell gesagt, es fehle an Empathie. Hatten Sie den Eindruck, dass manche Ratschläge, die Sie oder andere Ökonomen gaben, mit der Begründung abgelehnt worden waren, es fehle dem Wirtschaftsforscher an Einfühlungsvermögen?

Tatsächlich wurden allerlei Ratschläge angenommen, wenn auch teilweise erst, nachdem sie sich im öffentlichen Diskurs behauptet hatten. Das Wissenschaftliche an der Volkswirtschaftslehre ist, dass die Empathie weggelassen wird. Das heißt nicht, dass die sozialen Präferenzen der Menschen missachtet werden. Sie werden allerdings emotionslos formalisiert. In der Volkswirtschaftslehre ist eine Denkmethode entstanden, die über das, was die Menschen aufregt, sachlich redet und Empfehlungen für die Struktur des Wirtschaftssystems macht, also Anreizsysteme für das große Spiel entwickelt, in dem die Menschen miteinander agieren, so dass kollektiv etwas Vernünftiges herauskommt, und nicht die kollektive Irrationalität, die wir immer wieder beobachten. Denken Sie an die Interaktion durch Kriege oder die Luftverschmutzung. Sie sind das Ergebnis von falschen Anreizsystemen, die Negativsummenspiele implizieren. Es gibt aber auch Systeme, bei denen die Interaktion zu vernünftigen Ergebnissen führt. Dies ist im Grundsatz die Marktwirtschaft. Allerdings gibt es dabei viele Einschränkungen in Form von Marktfehlern. Die Marktfehler begründen dann die staatliche Wirtschaftspolitik zur Korrektur.

Jetzt sind wir beim Thema Marktwirtschaft angekommen. In Deutschland hat sie im Vergleich zu anglo-amerikanischen Ländern einen schweren Stand. Es wird schnell gesprochen vom Kapitalismus, vom Neoliberalismus, meistens in einer abwertenden Weise, teilweise auch unterstützt durch Nachbardisziplinen der Ökonomie, die diese Begriffe als Kampfvokabeln aufladen. Warum ist es so, dass in englischsprachigen Ländern die Marktwirtschaft angesehener ist als in Deutschland?

Deutschland ist das Land, das den Sozialismus erfunden hat. Karl Marx war ein Deutscher. Die sozialistischen Ideen sind grundsätzlich immer marktkritisch gewesen. Wir haben in der 68er Revolution noch einmal ein Wiederaufleben und eine Erneuerung dieser Gedanken erlebt. Und die Nachwirkungen in der Gruppe der Intellektuellen sind ja bis heute spürbar. Es ist aber nicht nur in Deutschland so, sondern auch in Frankreich und Italien. Diese kontinentaleuropäischen Länder haben eine andere Orientierung als die angelsächsischen Länder, die – ausgehend vom britischen Welthandel – eher eine positive Grundhaltung gegenüber Freihandelssystemen hatten, weil dadurch auch der Wohlstand wuchs. Er wuchs in Großbritannien und auch in anderen Teilen der Welt. Wenn ich mir so manche Schwellenländer anschaue, die es schwer haben, ihre Wirtschaft zu organisieren, dann frage ich mich, ob wirklich alles so viel besser geworden ist im Vergleich zur Kolonialzeit, wie immer behauptet wird. Wir sehen den Erfolg der Marktwirtschaft natürlich auch in Amerika, einem Land, das auf der Freihandelsidee basiert und dadurch ungeahnten Wohlstand akkumuliert hat. Natürlich ist dies Wohlstand, der ungleich verteilt ist. Das ist die große Schwäche der Marktwirtschaft, die die sozialistischen Kritiker zu Recht betonen. Man muss halt einen Kompromiss finden zwischen einem System, das den Kuchen im Sinne des Durchschnittseinkommens maximiert und einem System, das für mehr Gleichheit bei einem kleineren Kuchen sorgt. Es gibt einen Trade-off zwischen der Gleichheit und der Größe des Kuchens. Es ist nicht sinnvoll, nur dem einen dieser Ziele möglichst nahe kommen zu wollen und das andere zu vernachlässigen. Ein System mit vollkommener Gleichheit macht arm, ein System des freien Kapitalismus erzeugt zwar im Durchschnitt hohe Einkommenswerte, lässt aber viele zurück und unterminiert den Frieden in der Gesellschaft. Insofern braucht man, das ist der Konsens in meinem Fach, der Volkswirtschaftslehre, eine vom Staat korrigierte Marktwirtschaft. Eine Marktwirtschaft, in der der Staat auch die Aufgabe hat, die Verlierer des Systems zu kompensieren. Sie werden dadurch mit dem System versöhnt.

Jetzt hatten Sie den Durchschnitt angesprochen – Stichwort Durchschnittseinkommen oder Durchschnittskuchen. Die statistischen Methoden von Durchschnitt und Standardabweichung scheinen doch gerade für die Ökonomie wichtig zu sein. Durchschnittsaussagen oder Normalaussagen auf der einen Seite unterscheiden sich ja von Pauschalurteilen, die nach dem Motto funktionieren: alle Norweger sind groß, alle Italiener sind klein. Ebenso wenig wie Pauschalurteile taugen ja Einzelfälle zu irgendetwas, weil sie nichts aussagen, sie funktionieren nach dem Motto: es gibt überall auf der Welt solche und solche, so auch in Norwegen und Italien, kleine und große Menschen. Der Durchschnitt hingegen sagt: in Norwegen sind die Menschen normalerweise größer als in Italien, wenn man unter „normalerweise“ Durchschnitt und Standardabweichung versteht. Solche auf Statistik fußende Aussagen – aus der Makroperspektive – trifft ja eher ein Ökonom. Kann man es der Bevölkerung überhaupt klarmachen, dass Pauschalurteil und Normalaussagen nicht dasselbe sind?

Da geht es wieder um das Durchschnittseinkommen und die Ungleichheit der Verteilung. Das sind beides relevante Maße, die man im Auge haben muss. Diejenigen, die beim Einkommen unten liegen, sehen eher das Problem der Ungleichheit, wohingegen die andren, die ein hohes Einkommen haben, betonen, wie schön groß der hohe Durchschnitt ist. Zwischen diesen Sichtweisen muss man im Zuge des demokratischen Entscheidungsprozesses durch Wahlen einen Kompromiss finden. Deutschland ist ein Land, das für meinen Geschmack, einen ganz guten Kompromiss gefunden hat. Summa summarum funktioniert die deutsche Wirtschaft recht gut, sowohl im europäischen Vergleich als auch im Vergleich mit vielen anderen Länder dieser Welt. Zugleich haben wir einen wohl entwickelten Sozialstaat. Wenn man misst, wie groß die Ungleichheit der Brutto- und der Nettoeinkommen ist, und den Unterschied als Maß für die Umverteilung nimmt, stellt man fest, dass Deutschland unter den großen Ländern der Erde das Land ist, das die primäre Einkommensverteilung, wie sie durch die Marktkräfte zustande gekommen ist, am stärksten durch fiskalische Umverteilungsmaßnahmen verändert. Die Sekundärverteilung ist unter dem Einfluss dieser Maßnahmen tatsächlich substanziell gleicher geworden.

Eine Frage zum neuen möglichen EZB-Präsidenten, der die Nachfolge von Mario Draghi antreten wird. Da im Zuge der Europawahlen wahrscheinlich ein Deutscher (Anm.: Manfred Weber) Kommissionspräsident in der Nachfolge Jean Claude Junckers wird, erscheint es doch als unwahrscheinlich, dass ebenfalls ein Deutscher EZB-Präsident werden könnte. Gibt es eine Tendenz, wer nächster Präsident der Zentralbank werden könnte? Ist es überhaupt von Belang, aus welchem Land ein Notenbankchef kommt? Mario Draghi als bisheriger Amtsinhaber mag ja vielleicht auch sein eigenes Land und dessen Verschuldung im Blick gehabt haben.

Die Position des EZB-Präsidenten ist sicherlich wichtig, da sich die EZB aufgrund ihrer ausufernden Entscheidungen eine Machtfülle zusammengesammelt hat, die durch die Maastrichter Verträge nicht einmal ansatzweise vorgesehen war. Die Historie ist aber wie sie ist. Sie wird vom EuGH so verteidigt und respektiert. Damit ist plötzlich an der Spitze der EZB eine Art von legitimem Diktator entstanden, der über sehr viele finanzielle Ressourcen verfügt und Mittel zwischen Ländern hin- und herschieben kann. Das sind zwar formal gesehen Kreditmittel, die nicht zu Umverteilungen führen. Faktisch tun sie es aber sehr wohl, weil über die Konditionen dieser Mittel massive Verteilungswirkungen enfaltet werden. Nun ist der EZB-Präsident nicht allein, er ist dem EZB-Rat unterworfen. Aber eine charismatische Persönlichkeit hat schon die Möglichkeit, den Kurs dieses Gremiums mitzubestimmen.

Zum Thema Zinsniveau. Es ist ja seit mindestens fünf Jahren in der Eurozone recht niedrig. Vielleicht gibt es da zwei treibende Kräfte, die dieses Niveau auch niedrig halten. Einerseits die hohe Verschuldung Südeuropas, andererseits vielleicht auch das recht hohe Durchschnittsalter der europäischen Bevölkerung, möglicherweise weil in alten Volkswirtschaften relativ wenige junge Leute Kredite nachfragen. Kommt man aus dieser Falle überhaupt heraus? Japan, zum Beispiel, hat weltweit so ziemlich die älteste Bevölkerung und eine extrem hohe Staatsverschuldung – so rund 300% bezogen auf die jährliche Wirtschaftsleistung. Wird das Zinsniveau in der Eurozone aus den zwei genannten Gründen weiterhin unten verharren?

Es ist sicher richtig, dass dynamische Volkswirtschaften mit vielen Kindern auch mehr Erträge für Kapitalinvestitionen versprechen. Das ist der Hauptmechanismus. Ansonsten sehe ich den Zusammenhang nicht. Ältere Leute entsparen ja eher, weil sie keine Leistungseinkommen mehr haben. Das verknappt das Kapital und treibt die Zinsen für sich genommen hoch. Deshalb halte ich das Argument des Alters nicht für zweischneidig. Richtig ist, dass unsere deutsche Gesellschaft hauptsächlich deshalb überaltert, weil sie so wenig Kinder hat, und erst in zweiter Linie, weil die Lebenserwartung steigt. Wenn man wenig Kinder hat, bringen Kapitalinvestitionen wenig Erträge, denn die menschliche Arbeitskraft ist bei der Produktion das Komplement des Kapitaleinsatzes. Dennoch werden die europäischen, japanischen und amerikanischen Zinsen dadurch nicht allein oder auch nur maßgeblich erklärt. Sie sind vielmehr das Ergebnis der Blasen, die sich vorher dort entwickelt hatten. Ich meine die großen Immobilienblasen in Japan und den USA, die auch einhergingen mit allgemeinen Wirtschaftsblasen. Als die Blasen platzten, hat man nicht akzeptiert, dass ein Prozess der schöpferischen Zerstörung stattfand, wie ihn Schumpeter oder auch Marx beschrieben, so dass auf den Ruinen der nicht mehr wettbewerbsfähigen Firmen neue entstehen konnten, die hätten wachsen und gedeihen könne. Vielmehr haben die Zentralbanken versucht, die nicht mehr wettbewerbsfähigen Firmen zu retten, indem sie die Zinsen nach unten trieben, bis auf null oder gar in den negativen Bereich. Das hat dazu geführt, dass die schöpferische Zerstörung nicht stattfand. Die Zombies überlebten und absorbieren Jahr um Jahr immer mehr ökonomische Ressourcen, um zu überleben. So gesehen war die Politik der Zentralbanken das Rezept für ein dauerhaftes Siechtum, für eine Wirtschaft mit lauter Fehlinvestitionen und schlechten Kapitalrenditen. Sobald man die Zinsen auf Normalmaß erhöhen würde, würden diese Zombies dann wirklich sterben, und dann hätten die Politiker und Zentralbanken ein Problem. Sie haben nach dem Platzen der Blasen praktisch eine Politik der Konkursverschleppung betrieben, aus der man, wenn man einmal angefangen hat, gar nicht mehr leicht herauskommt. Das gilt auch für die europäische Zentralbank. Sie hat durch ihre ausufernde Geldpolitik mit den Nullzinsen notwendige Reinigungsprozesse unterbunden und überkommene Strukturen erhalten. Auch hat sie dafür gesorgt, dass Länder im Euro bleiben, die dort nie glücklich werden, weil sie mit den Preisen und Löhnen in der Vor-Lehman-Blase (vor 2008) an die Decke schossen und viel zu teuer geworden sind. Diese Länder müssten eigentlich aus dem Euro aussteigen, um durch Abwertung ihre Wettbewerbsfähigkeit herzustellen. Das hätten die politischen Konstrukteure der heutigen EU freilich als Fiasko angesehen, und viele Banken hätten viel Geld verloren.

Das billige Geld aus der Druckerpresse wurde in diesen Ländern als Ersatz für private Kredite und eigene Erträge aus Exportverkäufen verwendet. Das war zwar eine Politik, die im Moment zu funktionieren schioen, aber: wo führt sie hin? Sie führt in das dauerhafte Siechtum à la Japan. Die Japaner fingen in den 1990ger Jahren damit an, und dann folgten die Amerikaner. Die europäische Zentralbank hat das dann nachgemacht, obwohl sie es gar nicht durfte, denn sie ist ja nicht die Zentralbank eines Staates, sondern die Zentralbank einer losen Föderation von Staaten, die sich im Maastrichter Vertrag ein enges Regelwerk gegeben hatten. Die zwei wesentlichen Eckpfeiler waren: Erstens: es darf keine Staatsfinanzierung aus der Druckerpresse geben. Zweitens: Es muss auch Konkurse von Staaten geben, die überschuldet sind, ohne dass die Steuerzahler anderer Staaten die Gläubiger dieser Staaten retten. Beide Pfeiler sind eingebrochen. Jetzt sind wir in einem anderen Regime, in dem vieles versteckt vergemeinschaftet wird und in dem der Kapitalmarkt sukzessive außer Kraft gesetzt wird, um die knappen Ressourcen anders auf rivalisierende Verwendungen zu verteilen, als es durch die Marktkräfte geschehen wäre. Bei all seinen Schwächen im Hinblick auf die Einkommensverteilung liegt die Stärke des kapitalistischen Systems darin, dass hinter dem Investitionskapital Vermögensbesitzer stehen, die schlaflose Nächte haben, wenn sie über die optimale Portfoliostruktur ihrer Anlagen nachdenken. Dieser Umstand hat bislang noch im Wesentlichen dafür gesorgt, dass das knappe, über Generationen angesparte Kapital nicht unachtsam verschleudert wurde, sondern stets bestmöglich auf rivalisierende Verwendungen aufgeteilt wurde. Wenn nämlich ein Vermögensbesitzer seine Gesamtrendite maximiert, so maximiert er zugleich den Beitrag zum Sozialprodukt, der vom vorhandenen Kapitalbestand der Volkswirtschaft erzeugt werden kann. Die Lenkungspolitik der EZB unterminiert diesen Mechanismus, und sie beschädigt deshalb nicht nur die Grundpfeiler des Maastrichter Vertrages, sondern auch jene der Marktwirtschaft.

Ist man insofern in der Falle, dass man gar nicht mehr aus dieser Niedrigzinspolitik herauskommt?

Nein, da kommt man nicht wieder leicht heraus. In dem Maße, in dem die Zinsen steigen, würden die Staaten und Bankensysteme Südeuropas fallen Man könnte die Zinsen vielleicht ein bisschen steigen lassen, aber so richtig kommt man aus der Falle nicht mehr heraus. Konkret: die EZB hat für 1,9 Billionen Euro Staatspapiere von den einzelnen Notenbanken kaufen lassen. Dadurch wurden die Kurse hoch und die Zinsen niedrig gehalten. Die Banken, deren Bilanzen voll mit solchen Papieren waren, haben dadurch riesige Buchgewinne gemacht und schienen bilanziell wieder zu gesunden. In diesem Zustand ist das Bankensystem noch heute. Sobald die EZB den Spieß wieder umdreht, erweisen sich diese Buchgewinne als das, was sie waren: bloße Luftnummern. Die Bankenpleiten, die man damals abgewendet hatte, fänden nun statt. Auch die Staaten können sich nicht mehr weiterfinanzieren, weil sie höhere Zinsen bieten müssten, um die alten auslaufenden Kredite mit neuen zu bedienen, aber für die höheren Zinsen hätten sie in ihrem Budget keinen Platz. Sie haben sich an die niedrigen Zinsen gewöhnt und brauchen das Geld für ihr tägliches Frühstück.

Inzwischen könnte man ja auch behaupten, dass die deutsche Politik da mitmache. Wenn man sich ansieht, was seit Jahreswechsel 2019 beschlossen oder ins Auge gefasst wurde an Ausgaben, die vielleicht gar nicht wieder zurückzudrehen sind, so zum Beispiel die sogenannte Respektrente…

…Die ist ja noch nicht beschlossen, davon kann ja nicht die Rede sein.

Aber auch die Ausweitung des Verteidigungsetats. Es sind aber große Beträge, von denen man, wenn sie einmal beschlossen worden sind, so leicht nicht wieder herunterkommt. Bisher funktionieren zwar die Einnahmen, sie steigen seit vielen Jahren regelmäßig. Wenn jedoch diese hohen Einnahmen wegbrechen sollten und Staatsverschuldung droht, wäre sogar Deutschland ein Treiber der Niedrigzinspolitik, um beim Schuldendienst und einer möglicherweise einhergehenden Neuverschuldung nicht in Bedrängnis zu kommen.

Ja. Der Staat könnte sich im Zweifel so einsetzen. Das ist fatal, weil zwar der Staat von niedrigen Zinsen profitiert, nicht aber Deutschland. Deutschland besteht aus der Summe aller Sektoren, Haushalte, Firmen und dem Staat, und diese Sektoren zusammen sind gegenüber dem Rest der Welt nicht etwa Schuldner, sondern Gläubiger, der zweitgrößte Gläubiger der Welt überhaupt nach Japan. Deutschland hat nämlich durch seine Exportüberschüsse riesige Auslandsvermögen aufgebaut. Darauf verdient es eigentlich Zinsen. Da die Zinsen nicht mehr kamen, verlor Deutschland schon sehr viel Geld, und die Schuldnerländer dieser Welt, von den USA bis nach Südeuropa, waren die großen Profiteure. Das Fatale ist, dass der deutsche Staat sich darüber wenig aufregt, weil er ja selbst Schuldner ist und insofern von niedrigen Zinsen profitiert. Dass die Verluste der Sparer seine Gewinne überkompensieren, scheint ihn wenig zu interessieren. Maßgebliche Kräfte in der deutschen Politik finden die niedrigeren Zinsen gar nicht so schlecht, obwohl die deutsche Volkswirtscahft in ihrer Gesamtheit dadurch geschädigt wird..

Man kann sagen, dass das ökonomische Wissen hierzulande ja nicht allzu ausgeprägt ist. Während der Schulzeit gibt es praktisch keinen Wirtschaftsunterricht. So lassen sich Bürger unter dem Schlagwort Gerechtigkeit vieles verkaufen, was ungerecht oder ökonomisch kontraproduktiv ist.

Das ökonomische Wissen ist nicht verbreitet. Da sehen wir wieder einen Unterschied zur angelsächsischen Welt, wo das ökonomische Wissen einen ganz anderen Stellenwert hat – in den Universitäten und an den Schulen. In den USA macht so ziemlich jeder, egal, was sein Studienziel ist, ein Jahr Economics im Grundstudium. Das führt zu einem ganz anderen Grundverständnis. Hier in Deutschland haben wir ja mindestens die Hälfte der Intellektuellen, wenn nicht zwei Drittel, die nicht den Hauch einer Ahnung von volkswirtschaftlichen Zusammenhängen haben.

…und die noch stolz darauf sind…

Vielleicht das auch noch.

Diese Intellektuellen halten dann die Frankfurter Schule für state of the art in Ökonomie. Als Beispiel möchte ich anführen, dass ich vor 10 Jahren an einem Gymnasium ehrenhalber eine Wirtschafts-AG geleitet hatte, damit die angehenden Studenten überhaupt wissen, was Transaktionskosten, Informationskosten, Grenzerträge und dergleichen sind. An der Universität wird ja vorausgesetzt, dass sie wissen, was diese Begriffe beinhalten. Jetzt eine andere Frage – man stelle sich vor, die SPD käme auf die Idee, Sie zu fragen, ob Sie diese Partei beraten könnten. Die Umfragewerte der Sozialdemokraten sind ja schlecht, obwohl sie Mindestlohn, Rente mit 63 – gegen Ihren Rat – durchgesetzt hatten, jetzt möglicherweise noch die Grundrente. Das Versprechen der SPD in den 1960ern war ja der soziale Aufstieg. Die heutige Umverteilungspolitik scheint denen nicht viel zu bringen. Was wäre Ihr Rat? Wie könnte eine Agenda 2030 aussehen?

Sie muss wieder weg von diesem ideologischen Nahles-Kurs, zurück zum Schröder-Clement Kurs, aus dem die Agenda 2010 entstanden ist. Auch der jetzige Bundespräsident Steinmeier gehörte damals zu der Gruppe, die die pragmatische SPD vertreten haben. Ich glaube, die SPD kann nur dann gewinnen, wenn sie wieder ernst genommen wird, wenn sie aufhört mit ihrem ideologischen Gerede. Die Zeit der SPD-Pragmatiker ist lange vorbei. Die Leute wollen handfeste Politik, die ihre Sorgen ernst nimmt. Sie wollen zum Beispiel nicht aus ideologischen Gründen jetzt eine Dauerimmigration zulassen, wie sie 2015 begann. Die SPD Spitze sagte lange Zeit wie Kanzlerin Merkel, dass ruhig alle hereinkommen könnten. Unserer Gastfreundschaft könnten die Bedrängten dieser Welt sicher sein. Das haben die Wähler der Partei übel genommen. Die Wähler sind ja nicht nur Intellektuelle und Personen mit höheren Einkommen, deren offenes Herz nun mit der billigeren Putzfrau belohnt wird. Es sind statt dessen vielfach Menschen, die die Zuwanderer als Konkurrenz bei der Suche nach einem Arbeitsplatz und einer preisgünstigen Wohnung begreifen. Die SPD kann nicht davon abstrahieren, was ihre Wähler eigentlich wollen. Solidarität hatte man sich auf die Fahnen geschrieben, doch was man damit meinte, war nicht, dass man selbst Geld für Flüchtlinge zahlt, sondern von anderen Leuten welches bekommt. Bei der Flüchtlingskrise wurde dieses Missverständnis offenbar. Ganz aktuell hat die SPD den Versuch unternommen, dieses Missverständnis zu überwinden, indem sie eine Grundrente fordert. Ob die bezahlbar und gerecht ist, steht auf einem anderen Blatt.

Als Vermieter sehe ich, dass es zu einer Verknappung des Wohnraumes kommt, was für Arbeiter nicht interessant ist, unabhängig davon, dass die Löhne sinken.

Genau. Die Löhne sinken und die Mieten steigen. Die Reallöhne sinken über beide Effekte. Es ist klar, wer die Verlierer der Immigration sind. Dass diese Verlierer sich darüber aufregen, dass sie verlieren, kann man diesen Menschen nicht vorwerfen. Da kommen dann die Besserverdienenden wie Sie und ich und rümpfen die Nase und sagen: „Ihr seid unmoralisch.“ In Wahrheit gehören die aber zu den Gewinnern des Prozesses.

Man könnte als Vermieter, wenn man denn gemein wäre, die Mieten aufgrund der Verknappung ja auch erhöhen. Es kommen ja hauptsächlich junge Männer, also Einzelpersonen. Diese benötigen dann auch Einzelappartements, weil man sie in den seltensten Fällen in Wohngemeinschaften unterbringt. Auf die Schnelle kann ja so viel gar nicht gebaut werden, wie seit 2015 sprunghaft an Bedarf da ist.

Außerdem: wer bezahlt es denn?

Sie sprachen vom Problem der Babyboomer in verschiedenen Vorträgen. Zurzeit sind die Geburtenjahrgänge um 1969 noch im Arbeitsleben, aber von 2030 an werden die, die heute noch viel einzahlen, sehr produktiv sind, verrentet, wollen hohe Zahlungen aus der Rentenkasse für sich beanspruchen, ohne jedoch selbst genügend Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Wie kann man dieses Problem überhaupt lösen? Ist es finanzierbar? Ist es vielleicht gar ein noch größeres Problem als Migrationsströme und Eurokrise?

Ja, das ist das größte Problem, weil die Spitze des Eisbergs der Babyboomer, die im Jahr 1964 geboren wurden, jetzt zu Menschen gehört, die 55 Jahre alt sind. In 10 Jahren spätestens wollen sie eine Rente von Kindern, die sie nicht haben. Sie denken, sie hätten sich die Rente angespart. Die Rente kommt aber nicht aus einem Kapitalstock, sondern von der nachfolgenden Generation. Wenn die zu klein ist, bekommen sie die Rente nicht in dem Maße, wie sie es erhofften, oder sie müssen die nachfolgende Generation so mit Steuern und Beiträgen belasten, dass die darüber nachdenkt, das Weite zu suchen. Dieser Konflikt zwischen den Generationen und der absehbaren Staatskrise ist vorprogrammiert. Daran kann auch nichts mehr geändert werden. So viele Immigranten können wir gar nicht haben. Und wenn wir das mit Immigranten ausgleichen wollten, würde das Land aus anderen Gründen in Konflikte geraten. Die meisten Migranten in letzter Zeit kosten den Staat auch sehr viel Geld, weil sie sehr schlecht qualifiziert sind und wenig verdienen. Weil sie wenig verdienen, zahlen sie nicht die Steuern, die nötig sind, das ihnen zur Verfügung gestellt Spektrum staatlicher Leistungen von der Infrastruktur über das Rechtssystem und die Verwaltung bis hin zu den Sozialleistungen zu finanzieren. Deutschland braucht höherqualifizierte Migranten, wie sie nach Großbritannien oder in die USA einwandern. Wie man es auch dreht und wendet, wir kommen da in eine schwierige Phase hinein, weil uns immer mehr Fachkräfte fehlen. Viele Experimente und Spielereien, die wir jetzt betreiben, so auch der Doppelausstieg aus Kernkraft und Kohle, werden sich als dramatische Fehlentscheidung erweisen, weil dafür enorm viel Wirtschaftskraft verbraucht wird, die man eigentlich bräuchte, um die alternde Gesellschaft zu ernähren.

Wie kann man das überhaupt lösen? Kann man diese Ausgaben überhaupt noch zurückdrehen oder werden sie verharren?

Man wird versuchen, sie zurückzudrehen oder das Wachstum zu bremsen. Man kann ja Geld nicht ausgeben, das man nicht hat. Es wird zunehmend knapper werden beim Staat. Wir stehen vor einer Phase der Austerität, deren vorläufiger Höhepunkt aus demographischen Gründen in etwa 15 Jahren zu verorten ist. Aber auch schon in den nächsten Jahren wird das Geld zunehmend knapper werden. Die Gefahr ist, dass der deutsche Staat versuchen wird, sein Heil in der Verschuldung zu suchen. Es gibt jedenfalls Kräfte, die darauf hindrängen. Dabei ist es schädlich für die Bonität und verboten vom Grundgesetz. Wie wir aus diesem Konflikt herauskommen wollen, weiß ich nicht. Wenn man das Grundgesetz ernst nimmt, wird die Knappheit schon bald spürbar werden. Dann wird man sich dreimal überlegen, wie man den Doppelausstieg noch verlangsamen oder verhindern kann.

Wir befinden uns ja hier im ifo, einem herausragenden Institut mit weit mehr als 100 hochqualifizierten Wissenschaftlern, Ökonomen zumeist. Seit Jahrzehnten gibt es in der Wirtschaftswissenschaft den Zweig der sogenannten Umwelt- und Ressourcenökonomik. Gerade durch heiße Sommer und auch im Rahmen des Weltwirtschaftsforums in Davos kann man sehen, dass es ein Trendthema ist. Wie könnte ein Ökonom das Problem der öffentlichen Güter in den Griff kriegen? So werden ja zum Beispiel Ozeane auch vermüllt, weil es keine Eigentumsrechte an Ozeanen gibt.

Das Umweltthema ist für Ökonomen ein ganz altes Thema. Ich habe mich mit dem Thema über 50 Jahre beschäftigt. Das stand bereits zu Anfang meines Studiums im Blickpunkt. Ich habe auch als Assistent in den 1970ger Jahren bereits Übungen gehalten, in denen die Umwelttheorie eine große Rolle spielte und das Thema dann bis zum Ende meiner Dienstzeit regelmäßig unterrichtet. Die ökonomische Umwelttheorie geht zurück bis auf Arthur Cecil Pigou, der 1920 über das Problem der externen Effekte geschrieben hat. Das alles fand statt, lange bevor es die Grünen überhaupt gab. Deshalb bin ich ja auch ein bisschen kritisch gegenüber manchen ideologischen Grundpositionen der Grünen, obwohl ich im Grundsatz grün bin und grün denke, wie wir alle. Wir wollen eine saubere und intakte Umwelt. Gebote und Verbote sind ein drastischer Ansatz. Besser ist die pretiale Lenkung. Wenn man es also schafft, für Umweltprobleme Preismechanismen einzubauen, ist das eine Lösung. Der Weg funktioniert in Europa, wenn es um die CO2 Emissionen geht. Da haben wir ja das System des Emissionshandels. Doch fehlt die Vernetzung durch ein weltweites Emissionshandelssystem .Bei den Plastikflaschen sind wir erst am Anfang, weil viele Staaten sich gar nicht um irgendwelche Regeln scheren. Die Koordination des Umweltschutzes in diesem Bereich ist schwierig. Ein Staat kann Abgaben auf Plastik erheben, die so hoch sind, dass weniger Plastik verbraucht wird. Auch kann der Staat hohe Preise für eingeliefertes Plastik zahlen, so dass die Menschen sammelnd durch die Gegend gehen. So funktioniert es theoretisch auf kleinerer Ebene. Nur wie bekomme ich die Staaten dazu, so zu handeln, wenn der Müll in den Weltmeeren landet und sich das nationale Probleme schon von allein zu lösen scheint. Man muss politischen Druck über die UNO aufbauen, dass sie die Staaten internationale Regelsysteme akzeptieren.

Nun sind wir thematisch in Afrika angekommen. Afrika wird als Wirtschaftsfaktor bisher kaum wahrgenommen. Bisher war eher christliche Nächstenliebe Motiv für Investments in Afrika. Das scheint nicht optimal zu funktionieren. China investiert dort zunehmend. Wäre ein Handelsmodell mit einem Markt von einer Milliarde Menschen in Afrika, ebenso vielen günstigen Arbeitskräften, nicht zielführender als eine bisher weitgehend gescheiterte Entwicklungshilfepolitik?

Altruismus im Sinne von Transfers an diese Länder ist sowieso kontraproduktiv. Geldtransfers bedeuten ja letztlich Gütertransfers. Wir schenken ihnen Güter, die wir herstellen. Das erhöht zwar ihren Lebensstandard, schafft aber keine eigene industrielle Basis. Freihandel würde helfen. Wir haben sehr viel Agrar-Protektionismus in Europa. Dieser schädigt die Länder mehr, als die Entwicklungshilfe ihnen an Vorteilen bringt. Freihandel würde wettbewerbsfähige Arbeitsplätze bei Agrarprodukten entstehen lassen. Aber der Agrarprotektionismus ist in Europa fest verankert, weil Frankreich sehr viele Menschen im Agrarbereich hat und diesen Protektionismus zur Grundvoraussetzung an der Beteiligung an der EU gemacht hat. Es ist sozusagen die Grundphilosophie der EU, die französische Landwirtschaft zu schützen.

Und was macht China in Afrika?

Die Chinesen sind in Afrika nicht nur als Wohltäter unterwegs,. Sie beuten sehr stark aus. Das ist ein neuer Kolonialismus, der in vieler Hinsicht an den alten erinnert. Chinesische Geschäftsleute bedienen sich nicht immer nur der feinsten Methoden. Sie kaufen sich die Minen und leisten allerlei Seitenzahlungen, damit sie an die Ressourcen herankommen. Sie tun natürlich auch etwas für die Infrastruktur. Das ist dann ein gesamtheitlicher Ansatz, den sie da wählen, mit sichtbarem Erfolg. Vielleicht sind die Chinesen auch noch näher am Entwicklungsstand Afrikas, so dass sie Technologien anbieten können, die in der Übergangsphase für einen solchen Kontinent besser sind. Europa lässt sich da im Moment die Butter vom Brot nehmen.

Zum Thema Fachkräfte-Anwerbung für Deutschland. Wäre es eine Idee, gute amerikanische High School Absolventen, die ein Studium anstreben, nach Deutschland zu lotsen, auf dass sie hier studieren? Neben den Spitzenuniversitäten wie Harvard und Berkeley gibt es doch recht viele unterdurchschnittliche, gleichwohl immer noch teure Hochschulen in den USA. Deutschland hingegen erhebt keine Studiengebühren und bietet durchweg solide bis gute Universitäten an. Wäre es ein Modell, Studienanfänger eben aus den angloamerikanischen Ländern anzuwerben, deren Eltern sich die Gebühren dort kaum leisten können? Die unternehmerische Ausrichtung dieser Amerikaner in Deutschland könnte gar Impulse geben.

Woher auch immer die Leute kommen, das würde ich offenlassen. Ich sehe das Potenzial für eine qualifizierte Migration eher in Osteuropa. Der Kommunismus ist nicht wegen schlechter Schulen zusammengebrochen. Die Schulen waren hervorragend. Da gibt es hervorragend ausgebildete Menschen, auch mit hohem Arbeitsethos und mit einem kulturellen Hintergrund, der doch letztendlich europäisch ist und zu unserem passt. Was die amerikanischen High Schools betrifft, habe ich keine Illusionen. Die sind schlecht und nicht mit unseren Gymnasien vergleichbar, in keiner Weise. Ich habe in Amerika unterrichtet und war entsetzt darüber, wie wenig die Leute wissen, wenn sie von der High School kommen. Ein High School Abschluss ist kein Abitur. In den Eingangskursen der Universitäten müssen die jungen Leute noch nachlernen, was man hier an den Gymnasien schon beherrscht. Das betrifft insbesondere die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse. Aber dessen ungeachtet: warum auch nicht junge Amerikaner? Die Sprache ist ähnlich wie das Deutsche. Man kommt schneller herein, als wenn man von einer slawischen Sprache her käme oder einer romanischen. Nur: realistisch sind höhere Zuwanderungszahlen aus dieser Richtung nicht.

Was für die USA spricht, ist, dass man dort im Schnitt zwei Kinder pro Eltern hat, also nicht überaltert. Die Mittelschichtseltern sind bei zwei Kindern von den hohen Kosten für Universitäten in den Staaten überfordert. Man hätte ja beidseitig etwas davon, wenn die Hälfte der amerikanischen Studenten, die nach Deutschland käme auch nach dem Studium in Deutschland bliebe, hätten wir einen Impuls und die Eltern könnten ihrerseits in den USA ihrem Kind eine Ausbildung an einer guten Uni bieten, ohne ein Vermögen zu investieren.

Aber das gilt auch für Osteuropäer: für Polen, Tschechen, Ungarn, die einen sehr hohen kulturellen Stand haben und hervorragend ausgebildet sind.

Würden sich die osteuropäischen Staaten dann nicht – ich drücke es sarkastisch aus – bei den dort üblichen Geburtenraten von 1,2 Kindern pro Eltern bedanken, wenn wir ihnen die Fähigsten abwerben, so dass dort nur noch Rentner und schwächer Ausgebildete übrigblieben? Würde das nicht möglicherweise einen Ruf nach einem umverteilenden EU-Sozialstaat dort verstärken, nach dem Motto: ihr habt die Asse, bezahlt uns mal eine Ablösesumme?

Nein, denn mit ihrem Lohn erhalten die Menschen grundsätzlich gerade das, was sie zum deutschen Sozialprodukt beitragen. Die sogenannten Grenzproduktivitätsentlohnung ist das kaum bestreitbare Grundprinzip der Marktwirtschaft. Außerdem erhalten sie darüber hinaus die Umverteilungsgeschenke des Staates. Nochmal: Wer unterdurchschnittlich verdient, zahlt unterdurchschnittliche Steuern, während er die staatlichen Leistungen doch mindestens durchschnittlich in Anspruch nimmt. Und die meisten Migranten verdienen nun einmal unterdurchschnittlich. Erst in der dritten Migrantengeneration wird der Durchschnitt erreicht.

Sie deuteten an, dass die Jamaika-Verhandlungen vor anderthalb Jahren auch deshalb ins Stocken kamen, da man der FDP wenig angeboten hatte. Macron, so erinnere ich mich, habe kein Interesse an einem deutschen Finanzminister Christian Lindner gehabt. Warum hat eine französische Regierung sozusagen hieran kein Interesse?

Macron hat ja gesagt, wenn Lindner Finanzminister würde, wäre er verloren. So stand es jedenfalls in der Zeitung. Lindner hätte natürlich das Geld zusammenhalten wollen. Er hält von den grenzüberschreitenden Transfers wenig bis nichts, die Macron will. Macron hat explizit in seiner Sorbonne-Rede von einer Vertragsänderung gesprochen, um Finanztransfers in der EU zu ermöglichen. Dabei hatte er natürlich Deutschland als Geber-Land im Blick. Konkret ging es ihm darum, den Mittelmeerraum mit Geld zu stärken, denn dort liegen die Interessen Frankreichs. Dort sind die Absatzmärkte der französischen Firmen, und dorthin sitzen die Kreditkunden der französischen Banken. Die Stabilisierung des Mittelmeerraums ist eine Stabilisierung Frankreichs. Darum geht es. Aber das kann Deutschland nicht leisten. Das ist auch nicht gut für die EU, weil die Empfängerländer so im Zustand der Überteuerung festgehalten werden, der in der Vor-Lehman-Blase entstand und niemals wieder auf den grünen Zweig kommen. Eine Tansferunion macht uns Deutsche arm, und sie hilft auch den Empfängerländern nicht wirklich, weil der Zustand der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit perpetuiert wird. Die Droge des Transfergeldes macht ein bisschen glücklich und lähmt genau deshalb die eigene Tatkraft.

Sie haben Begriffe wie Target-Salden und Basar-Ökonomie geprägt. Das sind beides relevante Probleme, die vorher so von keinem sonst erkannt worden waren. Welches Problem sehen Sie jetzt im Jahr 2019, das schwelt, aber kaum besprochen wird?

Das neue große Thema ist die Energiewende – ich nenne dies Energiewende ins Nichts, weil wir sowohl aus der Kohle als auch aus der Atomkraft aussteigen wollen. Der Versuch, mit Wind die großen Räder der Industrie zu drehen, kann nicht gelingen, weil die Windenergie sehr volatil ist. Von dieser volatilen Energie bringt man nur einen Teil ins Netz. Die konventionellen Anlagen kann man hoch- und runterfahren, je nachdem, ob der Wind weht oder nicht. Wenn man zu viel reinbringt und große Marktanteile hat für den Windstrom, kommt man ab 50% in ein Territorium hinein, bei dem sich die Frage stellt, was man mit den überschießenden Stromspitzen tun will. Wenn weder Wind weht noch Sonne scheint, wird man auch in Zukunft konventionelle Kraftwerke brauchen, und wenn so viel Sonne scheint und Wind weht, dass die Grünstromproduktion den Bedarf an Strom übersteigt, weiß man nicht wohin mit der Energie. Die überschießenden Spitzen kann man nicht abpuffern durch Abschalten der konventionellen Anlagen, denn unter 0 lassen sie sich nicht fahren. Dann müsste man die überschüssigen Stromspitzen speichern oder wegwerfen. Wenn man sie wegwirft, sinkt die Effizienz des grünen Stroms progressiv, wenn der Marktanteil weiter wachsen soll. Wenn man sie speichert, entsteht das Problem der Speicherkosten und des Speicherplatzes. Pumpspeicher wären effizient, aber so viel Pumpspeicher kann man gar nicht bauen, dass man das alles speichern kann, aus geologischen Gründen: nicht in Deutschland, nicht in Europa. Da gibt es entsprechende Untersuchungen. Das einzige, was geht, wäre, chemische Speicher zu verwenden. Man müsste dann aus Strom Wasserstoff oder Methan machen. Hier fällt das Speicherproblem nicht sonderlich ins Gewicht. Aber dann ginge man von einer höherwertigen Energieform (Elektrizität (Mobilität)) in eine niederwertige (Chemie (Wärme)). Um daraus zurückzukommen, muss man physikalische Schwellen überwinden, die viel Energieverlust bedeuten. Hinzu kommt, dass die Anlagen zur Herstellung von Wasserstoff und Rückumwandlung ja auch sehr viel Geld kosten. Also, das ist ein technisch möglicher Weg, er erhöht aber die Energiekosten weiter. Deutschland ist schon heute mit seinen Doppelstrukturen – grüne Energie, abgepuffert durch konventionelle, die weiter stehen bleiben müssen – das Land mit den höchsten Stromkosten in ganz Europa. Wir haben vor Kurzem Dänemark geschlagen. Auf diese Weise macht man die Industrie kaputt und reduziert den Lebensstandard, gerade auch der einfachen Leute.

Das Argument, man käme in Leidensdruck und müsse sich etwas einfallen lassen, wie ein Paddler auf dem Chiemsee, der freiwillig und ohne Not seine Paddel über Bord wirft, in der Hoffnung, ihm fiele schon eine revolutionäre Technik ein, um an Land zu kommen, zählt also in diesem Zusammenhang nicht?

Welch absurdes Argument. Wollen wir die gesamte deutsche Volkswirtschaft dem Risiko des Ertrinkens aussetzen, um die Erfinder zu motivieren, bislang noch unbekannte Wege zur Vermeidung des Unglücks zu suchen? Deutschland als Versuchskaninchen? So können nur verantwortungslose Ideologen denken. Wenn man solche Experimente machen möchte, würde ich damit anfangen, sie erst einmal auf eine Kleinstadt zu beschränken.

Möglicherweise haben die Befürworter ja im Hinterkopf die Idee, Tschechien und Frankreich würden uns schon rauspauken, wenn alles schief geht. Dann wäre man ja sehr abhängig. Diese Länder könnten ja dann „Extra-Preise“ für Deutschland diktieren.

Ja, das ist eine gefährliche Strategie. Wenn man hier eine grüne Strategie wählt, muss sie auch duplizierbar sein. Dann muss sie auch für andere Länder möglich sein. Man kann nicht die Pufferfunktion auf die Nachbarländer verschieben, wenn die jahreszeitlichen Schwankungen in der Wind- und Sonnenstromproduktion so eng korreliert sind, wie es zwischen den Ländern Europas der Fall ist. Die anderen Länder wehren sich jetzt schon dagegen, dass sie die Überschüsse aufnehmen müssen, wenn die Sonne scheint und der Wind weht, und sind nicht bereit, diesen abzunehmen. Sie verlangen Geld für die Abnahme dieses Stroms. Deshalb haben wir auch teilweise negative Strompreise.

Sehr geehrter Herr Professor Sinn, ich danke Ihnen für das Interview.

Das Interview führte Hans-Martin Esser.

Nachzulesen auf www.theeuropean.de