Kein Schuldensozialismus!

Hans-Werner Sinn

Handelsblatt, 6. Januar 2012, Nr. 005, S. 72.

Die Zinsen für Staatspapiere haben sich in der Euro-Zone wieder so ausgespreizt wie schon vor dem Euro. Die Zahlungsbilanzungleichgewichte werden immer größer. Die Krise frisst sich von der Peripherie in den Kern, und die Kapitalflucht beschleunigt sich. Auch aus Italien und Frankreich flieht das Kapital seit dem Sommer mit wehenden Fahnen. Netto könnten mittlerweile 300 Milliarden Euro geflohen sein.

Die Notenpressen bei der Banque de France und der Banca d'Italia laufen auf Hochtouren, um den Geldabfluss auszugleichen. Aber damit wird die Flucht nur befördert, denn der Nachdruck von Geld verhindert einen Anstieg der Geldmarktzinsen bis zu dem Punkt, wo es das Kapital attraktiv fände zu bleiben. Hätte Europa die Regelungen der USA, wo die Zentralbanken der Distrikte der Fed in Washington die Sondergeldschöpfung mit goldbesicherten Wertpapieren bezahlen müssen, würden sie nicht so viel Ersatzgeld schöpfen, und die Kapitalflucht bliebe begrenzt. Die Gelddruckerei ist im Grunde nur Fluchthilfe.

Will die Euro-Zone nicht zu Kapitalverkehrskontrollen schreiten, gibt es nur zwei Auswege: Entweder schiebt sie der lokalen Gelddruckerei einen Riegel vor, oder sie garantiert den Investoren die Anlagen in Ländern, die sie für unsicher halten. Der erste Weg ist der amerikanische. Er verlangt auch, dass das Risiko staatlicher oder privater Wertpapiere bei den Käufern liegt. Der Steuerzahler wird selbst in Extremfällen nicht zu Hilfe geholt. Staaten können in Konkurs gehen.

Der zweite Weg ist der sozialistische. Er führt über Euro-Bonds zur Sozialisierung der Risiken. Weil alle Staaten einander kostenlose Kreditgarantien geben, können sich die Zinssätze für Staatspapiere nicht mehr nach der Bonität der Länder unterscheiden, und die effektiven Zinsen eines Landes sind umso niedriger, je unsolider dieses Land ist.

Der sozialistische Weg folgt zwingend aus dem freien Zugang zur Notenpresse, der das europäische System bis dato kennzeichnet. Solange sich die Banken und damit indirekt auch die Staaten, die ihre Staatspapiere an die Banken verkaufen, billigen Kredit in beliebiger Höhe aus dem Zentralbankensystem ziehen dürfen, wird Europa nicht zur Ruhe kommen. Die Kapitalflucht geht immer weiter, und es sammeln sich riesige Ausgleichsforderungen bei den Zentralbanken des Kerngebiets an (Target), vor allem bei der Bundesbank und der holländischen Zentralbank. In Deutschland machen diese Ausgleichsforderungen mittlerweile die Hälfte des gesamten Nettoauslandsvermögens der Bundesrepublik Deutschland aus (500 Milliarden Euro). Da sie bei einem Auseinanderbrechen des Euros vermutlich verloren gingen, wird der politische Druck, den Euro-Bonds endlich zuzustimmen, übermächtig.

Das wäre ein verheerendes Ergebnis für Europa. Der Rettungsfonds EFSF würde zu einer sozialistischen Planbehörde, die einen öffentlichen Kapitalfluss in Europa organisiert und die Allokationsfunktion der Märkte unterläuft. Wachstumsverluste durch eine Fehlallokation des Kapitals und eine Wirtschaftsflaute der Kerngebiete wären die Folge.

Die Sache wird nicht besser, wenn man die Kreditflüsse durch eine Fiskalregierung steuern möchte, wie es die Euro-Länder nun beschlossen haben. Solange die Schuldner die Regeln mitbestimmen, wird mehr Kapital fließen, als die Märkte gestatten würden. Die Verzerrung wird sich auch innerhalb der Zuflussländer zeigen, weil die Euro-Bonds vorläufig nur die öffentlichen Kreditflüsse absichern. Privaten Kreditnehmern wird sich das Kapital weiterhin verweigern, und so wird der Staatsapparat relativ zum privaten Sektor immer mehr wachsen. Otmar Issing hat in diesem Zusammenhang von einem Weg in die Knechtschaft gesprochen.

Stabil ist dieser Weg nicht, denn es besteht die Gefahr, dass sich die Steuerzahler und Gewerkschaften der Kapitalexportländer gegen den Kapitalabfluss wehren werden. Konkret wird sich in Deutschland gewaltiger Widerstand aufbauen, wenn es auf dem Wege der Einführung von Euro-Bonds wieder in die Krise zurückgetrieben wird, die es aufgrund der Zinsangleichung in Europa nach der Einführung des Euros schon einmal durchlaufen hat.

Funktionsfähig ist nur der amerikanische Weg. Kurz- und langfristige Zinsen spreizen sich nach der Bonität der Wirtschaft aus, und wenn jemand niedrige Zinsen haben will, muss er dafür echte Sicherheiten bieten.

Dieser Weg muss nicht Härte gegenüber den Krisenländern bedeuten. Man kann ihn kombinieren mit einem System der maßvollen und begrenzten Hilfe im Sinne einer Teilkaskoversicherung der Kapitalanleger gegen den Staatskonkurs, wie sie von der European Economic Advisory Group vorgesehen wurde. Das ist die letzte Chance, dem Schuldensozialismus zu entkommen.

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